Leben im Dunkeln
Raureif schmückt Halme und Sträucher. Trotz Winterfrische will ich einfach nicht recht wach werden, zu schön war es unter der warmen Bettdecke. Andere halten schliesslich auch Winterschlaf! Wieviel Larven schlummern wohl hier in Käferbohrlöchern, Markstängeln oder im Erdboden? Fast meine ich, all die kleinen Wesen in ihrem stillen Dasein wahrzunehmen …
In Tat und Wahrheit ist dieses «süsse Schlummern» für viele Insekten und Wildtiere eine riesige Herausforderung, bis zum Frühling überleben zu können. Eine Vielzahl von Arten beendet ihren Lebenszyklus innerhalb eines Jahres, so etwa solitär lebende Wildbienen, aber auch soziale Arten wie z. B. die Hummeln. Manche Schmalbienenarten haben sogar mehrjährige Entwicklungszyklen und oft kaum Chancen, diese zu vollenden. Auf Ertrag ausgerichtete landwirtschaftliche Nutzflächen, menschliche Gartenaktivitäten wie eifrige Gartenscheren zum falschen Zeitpunkt, generelle «Aufräumeritis» beenden abrupt und meist unwissentlich das Leben so mancher Insektenbrut.
Wildbienen legen ihre Eier im Frühling an geeigneten Brutplätzen ab. Jede Zelle versorgen sie sorgfältig mit Proviant, verschliessen sie, um sie dann sich selbst zu überlassen. Bald nach der Eiablage entwickeln sich die Larven, die sich schon nach wenigen Tagen in der Zelle verpuppen. Dann aber wird entschleunigt und die Puppe verweilt über den ganzen Winter in diesem Stadium. Fast 9 Monate – also den grössten Teil ihres Lebens – verbringen Wildbienen als Larven in Pflanzenhohlräumen, Baumhöhlen etc. Erst im nächsten Frühling bis Frühsommer schlüpfen die Jungtiere aus ihrer Brutzelle ans Licht, um sich zu paaren, den Bestand zu sichern, und nach der Eiablage im Sommer zu sterben – ein neuer Zyklus beginnt.
Viele Arten wie etwa Stängelnister sind darauf angewiesen, dass Pflanzenstängel mehrere Jahre erhalten werden. Im ersten Jahr blüht die Pflanze und verdorrt im Herbst. Erst im zweiten Jahr nisten Wildbienen darin, schlüpfen dann im dritten Jahr … Weil die meisten Wildbienen ortstreu sind, brauchen sie Nistplätze, die über mehrere Jahre hinweg sich selbst überlassen werden. Ein kleiner Teil Wildnis im Garten, auf dem Feld als Geschenk für diese Kleinlebewesen?
Gedankenverloren betrachte ich einen alten, hohlen Baum voller Bohrlöcher und Spinnennetze – entdecken kann ich zwar «niemanden», doch bestimmt haben sich hier überwinternde Falter, Fledermäuse oder gar Siebenschläfer verkrochen? Vielleicht schlummern im feuchten Erdreich hier auch Erdhummeln, Kröten oder Molche? Alle geben sie sich der Winterruhe und Starrheit hin, verharren geduldig, sammeln Kraft für neues Erwachen im Frühling. Getragen vom Naturkreislauf schöpfen sie diese immer wieder frisch, übergeben ihre Nachkommen vertrauensvoll dem Leben selbst.
Verstecke, ein Unterschlupf zum Brüten und Überwintern, das können Laub-, Ast- und Steinhaufen, Pflanzenstängel, ein Stapel Blumentöpfe, Kletterpflanzen sein – einige unberührte Winkel und schon kreucht und fleucht es. Auch uns – der Spezies Mensch, die wir nicht mehr und nicht weniger als nur ein Teil dieses erstaunlichen Naturnetzes sind – würden natürliche Schutz- und «Brut»-räume mehr als nur guttun! Die Stille der dunklen Jahreszeit ist wie gemacht, um in sich zu lauschen und Lebenskraft zu schöpfen, die sich mit dem erwachenden Frühling in neuen Projekten und Inspirationen verwirklichen darf. So trolle ich mich also getrost hinter die Ofenbank, um zu erträumen, was alles noch ans Licht wachsen wird.
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Eva Rosenfelder ist Autorin/Journalistin BR. In ihrer Serie schreibt sie über kleine und grosse Glücksmomente des Alltags. Mehr über die Autorin und ihre Angebote erfahren Sie unter www.natur-und-geist.ch