Zeit für Liebe
Ich will mich mit dir langweilen», sagte mein Liebster auf die Frage, wie wir unseren zweiten Hochzeitstag feiern wollen. Ich dachte an ein Fest, einen Ausflug oder Restaurant-Besuch mit Freunden. Aber langweilen? Tun das nicht nur Paare, die sich keine Mühe mehr umeinander geben? Sollte man sie nicht absolut vermeiden?
Er blieb dabei: «Ich will so viel Zeit mit dir haben, sodass noch immer Zeit übrig ist, wenn wir uns schon alles erzählt und alles Schöne zusammen getan haben. Ich will mich dann nicht ablenken und zerstreuen, vor allem nichts Sinnvolles oder Wichtiges tun. Wenn wir dann nicht mehr wissen, was als nächstes kommt – dann lernen wir uns noch ein wenig tiefer kennen.» War das nicht eine schöne Einladung?
Zeit ist im modernen Leben ein kostbares Gut. Wir nutzen sie wie ein Unternehmer seine Kern-Ressource: klug, effektiv und mit grösstmöglichem Outcome. Wenn wir mit dem Zug fahren, bearbeiten wir gleichzeitig E-Mails. Wenn ich koche, höre ich nebenbei die Nachrichten. An der Bushaltestelle mache ich unauffällig Dehnungsübungen. Sogar den Schlaf haben wir okkupiert, da sollen Träume unsere Probleme lösen. Und auch Sex geht nicht einfach so aus Freude, da soll bitte-schön ein Orgasmus herausspringen, mindestens.
Das ständige Gefühl, keine Zeit zu haben, ist der effektivste Angriff auf unsere Menschlichkeit. Wir haben nicht genug Zeit, um wahrzunehmen, wie es uns geht, den Menschen um uns herum, der Welt. Nicht genug Zeit zum Fühlen und Mitfühlen. Nicht genug Zeit zum Lieben und Küssen, zum Nachdenken und um gute Entscheidungen zu treffen.
Deshalb ist das kostbarste Geschenk, was wir uns machen können: effizienzfreie, ungestaltete, funktionslose Zeit. Seid einfach zusammen – verzichtet für einmal auf Pläne, Ideen, Vorschläge.
Doch Vorsicht: Langeweile ist eine Übung für Fortgeschrittene. Ihr werdet feststellen, dass etwas in euch dagegen rebelliert. Gerade jetzt fällt euch vieles ein, was ihr sagen oder tun müsst – unbedingt jetzt! Langeweile gilt als «Halbschwester der Verzweiflung», wie Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach sagte. In diesen Abgrund wollen wir nicht schauen.
Was geschieht, wenn wir es trotzdem tun: die Langeweile zulassen? Was kommt da hoch? Vielleicht all die Teufelchen, die wir mit unserer Beschäftigtheit vermeiden wollen, wegen derer wir lieber Streit anzetteln, uns stundenlang mit dem Handy beschäftigen oder um die Welt reisen, als sie wahrzunehmen: Unaufgeräumtes, Konflikte, Ängste … die ganze innere «Sabotage-Abteilung». Langeweile ist ihr Einfallstor.
Aber was wird aus den Teufelchen, wenn sie nicht wie sonst verteufelt, sondern willkommen geheissen werden? Einige werden im Licht unserer Achtsamkeit dahinschmelzen wie Schnee in der Morgensonne. Andere sind penetrant und fordern uns: Sei präsent! Fühle uns! Kümmere dich!
Liebe heisst für mich auch, an diesen unangenehmen Stellen beieinander zu bleiben: sie gemeinsam anschauen, möglicherweise klären – und uns auch da lieben, wo wir am liebsten weglaufen würden. Dann verstehen wir: Langweilig ist nur die Bemühung, Langeweile zu unterdrücken.
Leila Dregger ist Journalistin und Buchautorin. Sie begeistert sich für gemeinschaftliche Lebensformen, lebte u. a. über 18 Jahre in Tamera, Portugal, sowie in anderen Gemeinschaften. Am meisten liebt sie das Thema Heilung von Liebe und Sexualität sowie neue Wege für das Mann- und Frau-Sein.