Kindermedizin und Zauberblume

Im Mittelalter war das Stiefmütterchen bekannt dafür, dass es den Intellekt schärft. Bei Shakespeare macht die Zauberblume liebestoll. Heute gilt die Pflanze als eines der besten Heilmittel für die Haut.

Yves Scherer

Endlich Frühling! Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Kräuter nach der winterlichen Vegetationsruhe wieder spriessen. Während ich im Garten arbeite, kommen zwei Nachbarskinder vorbei und fragen nach essbaren Blumen. Es ist zwar noch früh im Jahr, aber im Garten und rund ums Haus finden sich doch schon einige blühende Kräuter. Die Kinder wuseln zwischen den Beeten herum, zupfen hier und da ein paar Blüten ab und stecken sie sich in den Mund. Ganz besonders mögen sie das Stiefmütterchen. Vorletztes Jahr hatte ich ein einzelnes Stiefmütterchen gepflanzt. Inzwischen zeigen sich die bunten Blütenköpfchen über den ganzen Garten verstreut. Beinahe kommt es mir vor, als sprängen die kleinen Blumen wie die Kinder zwischen den Beeten umher. Wer Stiefmütterchen oder Veilchen im Garten hat, kann täglich neue Blüten abzupfen und sie als farbenfrohe Salatbeigabe oder als Dekoration für Desserts verwenden. Ihr Geschmack ist süsslich-mild und etwas schleimig.

Es gibt viele verschiedene Stiefmütterchen-Arten. Zu Heilzwecken wird das Echte Stiefmütterchen (Viola tricolor) verwendet. Es blüht in den drei Farben Weiss, Gelb und Blau-Violett und ist nahe verwandt mit dem Acker-Stiefmütterchen (Viola arvensis). Beide Arten weisen konzentrisch angeordnete Streifen auf den unteren drei Kronblättern auf, die den Hummeln und Bienen den Weg zum süssen Nektar anzeigen. Zur Familie der Veilchengewächse (Violaceae) gehören auch das violett gefärbte Wohlriechende Veilchen (Viola odorata) und viele weitere Arten.

Stiefmütterchen und Veilchen gehören zu den essbaren Blumen. Man kann sie in Smoothies geben, in Kräutersalz oder Kräuterbutter einarbeiten oder zum Aromatisieren von Tee, Spirituosen, Sirup, Essig und Kräutersaucen verwenden. Am besten schmecken sie aber roh. Besonders aromatisch schmeckt das Wohlriechende Veilchen. Seine Blüten gelten als Delikatesse.

Wie das Stiefmütterchen zu seinem Namen kam

Das Stiefmütterchen kennt man auch unter den Namen Mädchenauge, Schönauge, Dreifaltigkeitsblume, Liebesgsichtli, Schwigerli oder Freisamkraut. Dass sich der Name «Stiefmütterchen» durchgesetzt hat, liegt wohl an der einzigartigen Färbung der Blüten. Trotz reicher Variationen zeigt sich bei den dreifarbigen Blüten eine Konstante: das unterste und die beiden seitlichen Kronblätter sind nämlich meistens heller als die beiden Oberen. Unten sitzt also die Stiefmutter, zu ihren Seiten ihre eigenen Kinder und oben die Stiefkinder.

In der Pflanzensymbolik steht das Stiefmütterchen für Glaube, Hoffnung, Freundschaft, Treue, Selbstaufopferung und unwiderstehliche Liebe. Um diese unwiderstehliche Liebe dreht sich William Shakespeares Komödie «Ein Sommernachtstraum».

Der Elfenkönig Oberon träufelt seiner Gattin Titania den Saft einer Zauberblume auf die Augenlider, damit sie sich in das erste Wesen verliebt, das sie nach dem Erwachen zu Gesicht bekommt. Die Zauberblume ist natürlich ein Stiefmütterchen. Der Zauber wirkt – blöd nur, dass die Königin nach dem Erwachen einen Esel sieht!

Verwendung gestern und heute

Im Mittelalter galten Veilchen-Arten als grosse Arzneipflanzen. Eingesetzt wurden sie bei Kinderkrankheiten, Epilepsie, Kopfschmerzen, Husten, Fieber und Gicht. Ausserdem diente Veilchenöl als Grundlage für die Herstellung vieler Arzneimittel und gehörte zu den meistgebrauchten Substanzen zur äusserlichen Behandlung von Hautkrankheiten und Wunden. Dem Stiefmütterchen wurde nachgesagt, es kläre den Geist, schärfe den Intellekt und schenke Zuversicht.

Im Mittelalter wurde das Veilchen offenbar bei Säuglingen zur Behandlung von Milchschorf angewendet. Der deutsche Botaniker und Mediziner Leonhart Fuchs schrieb in seinem «New Kreütterbuch» aus dem Jahr 1543: «Freyschamkraut (Milchschorfkraut) ist nützlich gesotten und getruncken denen so schwerlich athmen / reynigt die brust und lungen von allerley schleim und eyter. Es ist gut den jungen kindern so das freysch haben / daher ist es auch Freyschamkraut geheyssen worden.» Viola tricolor enthält entzündungshemmende Anthozyane, antioxidative Flavonoide, juckreizlindernde Schleimstoffe, schmerzlindernde Salicylsäurederivate und wundheilende Gerbstoffe. Ausserdem Phenolcarbonsäuren, Peptide, die Vitamine C und E, Carotinoide, Cumarin und viele weitere Inhaltsstoffe. Äusserlich angewendet wirkt der Stiefmütterchentee kortisonähnlich und lindert als Waschung, Badezusatz oder Umschlag Akne, chronisches Ekzem, Psoriasis und Sonnenbrand. Eingenommen wirkt er harn- und schweisstreibend. Der Tee unterstützt den Stoffwechsel und somit die Entgiftung des Organismus, was bei rheumatischen Beschwerden Linderung verschaffen kann. Durch den regelmässigen Genuss von Stiefmütterchentee wird die Haut von innen gereinigt und entlastet. Das hilft, allergischen Reaktionen vorzubeugen. Dank der schleimhautschützenden Schleimstoffe und einer antimikrobiellen, antiviralen Wirkung kann der Tee zur Vorbeugung und Behandlung von Atemwegsinfektionen getrunken werden.

Eine Heilpflanze für Kinder

Auch Kleinkinder vertragen das Stiefmütterchen gut. Leidet ein Kind unter Milchschorf, kann man den Tee zum Schoppen geben oder das Milchpulver anstelle von Wasser mit Stiefmütterchentee anrühren. Die Heilpraktikerin Margret Madejsky empfiehlt in ihrem Buch «Lexikon der Frauenkräuter», dass stillende Mütter regelmässig Stiefmütterchentee trinken sollen, wenn ihr Kind an Neurodermitis leidet. Die pflanzlichen Wirkstoffe werden über die Muttermilch vom Säugling aufgenommen und können einer Hauterkrankung vorbeugen. Das gilt auch für Erwachsene: Viola tricolor wirkt zell- und gefässschützend, wundheilend, lindert Ödeme, regeneriert die Haut und hält sie elastisch. Die wirksamen Inhaltstoffe des Stiefmütterchens befinden sich in den Blüten und in den Blättern der Pflanze. Die Veilchenwurzeln, welche den Babies bei Zahnungsbeschwerden zum Kauen gegeben werden, stammen nicht vom Veilchen. Es handelt sich in Wirklichkeit um den Wurzelstock der Schwertlilie. Die echten Veilchenwurzeln sind ungeniessbar. Sie schmecken brennend scharf und können Erbrechen verursachen.

Sammeltipps

Stiefmütterchen- und Veilchenblüten sind klein und zart. Sie lassen sich aber leicht abzupfen, wenn man sie am unteren Teil des Blütenkelchs anfasst. Für einen medizinisch wirksamen Tee sollten immer auch ein paar Blättchen gesammelt werden. Transportieren Sie die Blüten in einem Körbchen und nicht in einem Plastiksack. Zum Trocknen können Sie das Sammelgut auf ein Tuch oder Papier auslegen. Zur Aufbewahrung eignen sich Papiertüten oder Glasbehälter.

Wenn Sie Stiefmütterchen im eigenen Garten ansiedeln möchten, sollten Sie beim Kauf der Samen oder Setzlinge darauf achten, dass Sie das Wilde bzw. Echte Stiefmütterchen wählen und nicht eine Zuchtform. Das Garten-Stiefmütterchen (Viola wittrockiana) hat zwar schöne übergrosse Blüten, zeigt aber nicht dieselbe Heilwirkung wie Viola tricolor. Doch welche Sorte Sie auch anpflanzen – eine Zierde für den Garten sind sie alle!

 

Anwendungstipps

Wegen seiner umfangreichen Heilwirkung und guten Verträglichkeit eignet sich das Stiefmütterchen hervorragend für den Hausgebrauch.

Teezubereitung: 4 bis 5 Teelöffel blühendes Kraut mit 1 Liter heissem Wasser übergiessen. Für Säuglinge wird niedriger dosiert (1 bis 2 TL Kraut pro Liter). 5 Minuten ziehen lassen. Über den Tag verteilt trinken.

Badezusatz: 3 bis 4 Esslöffel Blüten mit 1 Liter kochendem Wasser übergiessen, 15 Min. ziehen lassen, dem Badewasser zugeben.

Rezept:

Aknewasser für Pubertierende (von Margret Madejsky)

Das Aknewasser kann innerlich und äusserlich angewandt werden. Eingenommen reinigt es Blut und Lymphe von Antibiotikaresten und hilft Eiter abzubauen. Äusserlich regt es den Hautstoffwechsel an und wirkt entzündungswidrig.

Mischen Sie die folgenden Urtinkturen selbst oder lassen Sie diese in der Drogerie oder Apotheke zusammenstellen:

  • Gundelrebe (Glechoma hederacea), Urtinktur 20 ml
  • Kapuzinerkresse (Tropaeolum majus), Urtinktur 20 ml
  • Stiefmütterchen (Viola tricolor), Urtinktur 10 ml

Anwendung:

Zweimal täglich 5 bis 6 Tropfen im Mund zergehen lassen und zweimal täglich 5 bis 6 Tropfen auf 1 Esslöffel Wasser träufeln, mit einem Wattebausch als Gesichtswasser auftragen und kurz einwirken lassen

 

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