Die Meisterpflanze, die das Herz erfreut

Der grazile Waldmeister ist ein bisschen heimtückisch. Egal, ob wir das Waldkraut als Heil- oder Genussmittel verwenden – der Umgang mit ihm will gelernt sein.

Yves Scherer

E ine der schönsten Erinnerungen an meine Jugendzeit hat mit dem Waldmeister zu tun. Wenn im Frühling die zartgrünen Waldmeisterpolster zwischen den mächtigen Buchen zu blühen begannen und den Waldboden in ein Sternenmeer verwandelten, war es wieder Zeit für unser familiäres Frühlingsfest. Die wichtigste Zutat für diesen geselligen Anlass war Mutters berühmte Waldmeisterbowle. In der Mitte des Tisches stand eine grosse gläserne Schüssel, die nur einmal im Jahr hervorgeholt wurde und ausschliesslich dem Zweck diente, den köstlichen Frühlingstrunk zu präsentieren. Mit abnehmendem Pegelstand in der Schüssel wurde die Feier immer ausgelassener und erreichte wie alle Jahre ihren Höhepunkt, als Grossmutter mit glänzenden Augen seufzte: «Also die Bowle, einfach grossartig!»

Der Waldmeister ist eine ausdauernde, krautige Pflanze aus der Gattung der Labkräuter (Galium). Sie gedeiht im Halbschatten humusreicher Buchen- und Laubmischwälder, wo sie gerne dichte Bestände ausbildet. Die Blätter sind quirlständig um den vierkantigen, unverzweigten Stängel angeordnet. Je nach Standort erscheinen von April bis Juni die sternförmigen weissen Blüten. Hauptsammelzeit ist der Mai. Soll das Kraut für eine Bowle verwendet werden, sammelt man ein Sträusschen, solange die Blütenknospen noch geschlossen sind, für Heilzwecke hingegen, nachdem die Blüten sich geöffnet haben. Der Waldmeister lässt sich gut im Garten ziehen und sehr einfach vermehren, indem man aus einem Polster einige Pflanzen aussticht, das Kraut zurückschneidet und die Wurzelballen am neuen Standort wieder eingräbt.

Ein blühender Waldmeister-Teppich.

Andere Namen für den Waldmeister sind Maiblume, Sternleberkraut, Waldmutterkraut (Herba matrisylvae), Tabakskraut, Guggerblume, Herzfreude/Herzfreund und französisch Reine des bois (Königin des Waldes). Der wissenschaftliche Name Galium odoratum bedeutet «Wohlriechendes Labkraut» (Synonym: Asperula odorata).

Die Heilwirkung des Waldmeisters 
In der traditionellen Frauenheilkunde diente frisch gepflückter Waldmeister zur Geburtserleichterung und wurde zu diesem Zweck um die Beine der Gebärenden gebunden. Als «Liebfrauenstroh» oder «Mariae Bettstroh» wurde getrocknetes Waldmeisterkraut in die Matratze und Kissen des Wochenbettes gestopft. Auch viele andere aromatisch duftende Kräuter wie Echtes Labkraut, Beifuss, Dost, Thymian, Gundelrebe, Johanniskraut und Kamille wurden als Liebfrauenstroh verwendet. Eine solche Kräuterunterlage wirkt beruhigend, nerven- und herzstärkend, stimmungsaufhellend und desinfizierend. In der modernen Naturheilkunde ist der Waldmeister bis heute ein wichtiges Heilmittel geblieben, das innerlich wie auch äusserlich angewendet werden kann. Als Tee eingenommen wirkt der Waldmeister galle-, harn- und schweisstreibend, krampflösend und antiseptisch. Er beruhigt bei Nervosität und Angstzuständen und eignet sich gut für schlaffördernde Teemischungen. Die gefässentkrampfende Wirkung mildert Spannungskopfschmerzen und Migräne. Ausserdem soll er Leber und Galle unterstützen, der Steinbildung in den Nieren und Harnwegen vorbeugen und «das Herz erfreuen».

Von April bis Juni blühen die sternförmigen weissen Blüten.

Umschläge mit dem angewelkten Waldmeisterkraut, mit Teekompressen oder Waldmeister-Kräuterkissen helfen bei der Behandlung von Krampfadern, Venenentzündung und Wassereinlagerungen in den Beinen. Diese Anwendungen fördern die Durchblutung, tonisieren die Blutgefässe, wirken entzündungshemmend, lymphflussfördernd, ödemhemmend, wundheilend und schmerzstillend.

Für die Anwendung des Waldmeisters zu Heilzwecken ist die richtige Dosierung wichtig (siehe Rezeptteil). Zu hoch dosierter Tee kann eine «paradoxe» Wirkung entfalten und Symptome hervorrufen, die er bei richtiger Dosierung mindert. Dieses Phänomen habe ich vergangenen Frühling erlebt, nachdem ich etwa zwanzig Büschel Waldmeister in meinem Büro zum Trocknen aufgehängt hatte. Bald stellte ich fest, dass ich mich nicht mehr richtig konzentrieren konnte. Ich verlor den Faden und vergass sogar, was ich eigentlich schreiben wollte. Allmählich wurde mir schwindlig und ein diffuser Kopfschmerz stellte sich ein. Erst als ich die Waldmeister-Sträusschen aus dem Büro entfernt und den Raum gut gelüftet hatte, fühlte ich mich wieder besser. Verantwortlich für mein Unwohlsein war das aus dem welkenden Kraut freigesetzte Cumarin. Dieser glykosidisch gebundene Wirkstoff wird bei Verletzung des Pflanzengewebes enzymatisch aktiviert und verströmt dann einen intensiven Duft nach frischem Heu. Cumarin verdirbt den Tieren, die an der Pflanze knabbern, den Appetit und schützt die Pflanze auch vor dem Befall durch Mikroorganismen.

Blütendolden mit vierzähligen weissen Kronblättern.

Die Waldmeisterbowle – der luststeigernde Maientrunk
Am Tag des Maivollmonds wird mit dem Jahreskreisfest Beltane/Walpurgis die wiedererwachte Natur gefeiert. Das Frühlingsfest verkündet die kommende Zeit der Wonne. Zum ausgelassenen Maifest gehören anregende Kräuterbäder und der gemeinsame Genuss der Waldmeisterbowle.

Das älteste überlieferte Rezept für diesen Frühlingstrunk stammt aus dem Jahr 854, verfasst von einem Benediktinermönch namens Wandalbertus. Es lautet: «Schütte den perlenden Wein auf das Waldmeisterlein.» Üblicherweise werden der Bowle pro Liter Wein etwa zehn Stängel Waldmeister hinzugefügt.

Der Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl nennt das ein «gutbürgerliches Rezept». In seinem Buch «Meine Kräuter des Waldes» (AT Verlag) erzählt er: «In meinen wilden Jahren habe ich dem Wein ein ganz dickes Büschel Waldmeister zugefügt und sehr lange darin ziehen lassen. Der Rausch war berserkerhaft. Als ich vor die Tür trat, war es, als schreite der Wald einige Meter auf mich zu. Da wurde mir klar, warum die Pflanze Meister des Waldes genannt wurde.»

Meiner Grossmutter ging es beim Genuss der Waldmeisterbowle vielleicht ähnlich wie dem bekannten Ethnobotaniker. Sie war eine Frau, die keine grossen Worte machte, den kleinen Freuden des Lebens aber gerne zusprach. Ihre bescheidene Bemerkung «einfach grossartig!» wurde denn auch wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ein grösseres Kompliment als dieses konnte niemand erwarten.


Rezept Waldmeisterbowle

Zutaten:

  • 1 Flasche Weisswein (z. B. Riesling)
  • 1 Flasche Sekt
  • 1 Sträusschen Waldmeister (15–20 Stängel)
  • 2 EL Zucker
  • 1 Glas Mineralwasser
  • eine Handvoll frische Erdbeeren oder einige Zitronenscheiben

Den Waldmeister mit ungeöffneten Blütenknospen (!) sammeln und ein bis zwei Tage anwelken lassen. Den Wein in eine schöne (!) Schüssel geben, den Waldmeister dazugeben und ca. eine Stunde ziehen lassen. Das Mineralwasser erwärmen und den Zucker darin auflösen. Nach Erkalten das Zuckerwasser, den Sekt und die halbierten Erdbeeren in die Schüssel geben.

Alkoholfreie Variante: Den Waldmeister in Apfelsaft einlegen und diesen anschliessend mit Mineralwasser verdünnen. Zum Wohl!

 

Anwendungstipps

Waldmeisterkraut als Teedroge.

 

Migränetee

  • 2 Teile Waldmeister
  • 1 Teil Lavendelblüten
  • 1 Teil Thymian

Alle Zutaten können frisch oder getrocknet verwendet werden. 2 TL der Mischung mit einer grossen Tasse heissem Wasser aufgiessen, 5 Minuten zugedeckt ziehen lassen, mit Honig süssen.

Kontraindikationen: In der Schwangerschaft und bei Einnahme blutverdünnender Medikamente sollten Waldmeister und andere cumarinhaltige Pflanzen nicht eingenommen werden.

Beruhigendes Kräuterkissen

  • 4 Teile Waldmoos
  • 2 Teile Hopfenzapfen
  • 1 Teil Waldmeister

Die getrockneten Kräuter in ein Kissen füllen und dieses mit ins Bett nehmen.

Mottenschutz

Kleidermotten mögen den Duft des Waldmeisters nicht besonders. Um die unliebsamen Mitbewohner fernzuhalten, kann ein Säckchen mit getrocknetem Waldmeisterkraut in den Kleiderschrank gelegt werden.

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