Wie das Landleben vor Allergien schützt

Immer mehr Menschen, darunter viele Kinder, leiden an Allergien. Studien zeigen jedoch, dass Kinder im ländlichen Raum weniger davon betroffen sind als Stadtkinder. Für die integrative Medizin ist diese Erkenntnis keine Überraschung.

Fabrice Müller

Die vier Kinder von Georg und Seraina Horisberger vom Rankhof in Füllinsdorf BL sind zwischen eins und sieben Jahre alt. Täglich trifft man die Kleinen im Kuhstall, bei den Schafen, Pferden oder den Hühnern. «Unsere Kinder bewegen sich viel draussen und lieben den Kontakt zu unseren Tieren», erzählt Seraina Horisberger. Der Bio-Hof setzt auf Mutterkuhhaltung, deshalb gibt es bei der Familie Horisberger zuhause keine Kuhmilch aus eigener Produktion. «Wir trinken vor allem Hafermilch und haben gute Erfahrungen damit gemacht», erzählt die Bäuerin. In der Küche setzt sie auf eine ausgewogene Ernährung. Das Fleisch stammt von den eigenen Tieren. Keiner der vier Sprösslinge vom Rankhof leidet unter Allergien, wie Seraina Horisberger berichtet. Die vierfache Mutter ist sich bewusst, dass das Umfeld wie auch die Ernährung ihrer Kinder wohl einen positiven Einfluss auf Allergien und Krankheiten haben. Vor Erkältungen werden sie allerdings nicht verschont, aber erst, seit die ältesten der vier Kinder im Kindergarten sind. «Im Kindergarten wird grosser Wert auf das Händewaschen gelegt. Wir forcieren dies bei uns weniger stark, weil wir überzeugt sind, dass wir dadurch das Immunsystem unserer Kinder stärken.»

Mäuse im Kuhstall

Das Beispiel der Familie Horisberger mit ihren vier Kindern dürfte kein Einzelfall sein. Verschiedene Studien belegen, dass Kinder, die im ländlichen Raum oder gar auf einem Bauernhof aufwachsen, weniger unter Allergien leiden als Stadtkinder. Neben dem Einfluss des ländlichen Umfelds scheint auch der Konsum von unbehandelter Kuhmilch eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Allergien im Kindesalter zu spielen. Forschende der Universität Genf haben den sogenannten Bauernhof-Effekt an Mäusen untersucht. Die Forschungsgruppe platzierte die Mäuse direkt im Kuhstall. Ergebnis: Jene Versuchsgruppe von Mäusen, die auf dem Bauernhof zur Welt kam, reagierte weniger stark auf ein künstliches Allergen als Mäuse aus der Labortierhaltung. Auch die Darmflora der Tiere unterschied sich je nach Lebensbedingungen: Im Verdauungstrakt von Bauernhofmäusen war die Vielfalt an Bakterien grösser und eine bestimmte Art von Viren war zahlreicher vorhanden. Diese Mastadenoviren könnten die Moderatoren der Immunantwort sein, so die Forschenden. Georg Loss vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel berichtete davon, dass sich gemäss verschiedenen Studien in europäischen Ländern das Umfeld von schwangeren Frauen auf die Aktivität und Prägung des kindlichen Immunsystems auswirkt. So seien im Nabelschnurblut von Kindern, deren Mütter auf einem Bauernhof leben, bereits Anzeichen für eine stärkere Aktivierung der angeborenen Immunantwort des Kindes festgestellt worden.

Aktive Immunantwort dank Rohmilch

Die PASTURE-Studie (Protection against Allergy: Study in Rural Environments) soll ferner festgestellt haben, dass Kinder, die vor ihrem ersten Geburtstag regelmässig ungekochte Rohmilch getrunken haben, über eine aktive Immunantwort verfügten. Ähnliche Hinweise lieferten auch die Auswertungen der GABRIELA- Studie an über 8000 Kindern in ländlichen Gebieten Süddeutschlands, der Schweiz, Österreichs und Polens vor zwei Jahren: Kinder, die Rohmilch tranken, waren in dieser Studie weit weniger von Allergien und Asthma betroffen als Kinder aus Familien, die ihre Milch im Supermarkt einkauften. Das Studienteam erkannte dabei: Ausschlaggebend für den schützenden Effekt ist nicht der Gesamtgehalt an Bakterien oder der Fettgehalt der Milch, sondern die Menge an unveränderten Molkeproteinen. Diese helfen offenbar mit, das Immunsystem vor einem Abdriften in Richtung Allergie zu bewahren. Durch das Erwärmen, etwa im Rahmen der Pasteurisierung, verlieren die Proteine der Milch ihre Struktur und damit auch ihre Funktion. Das Landleben hat aber noch mehr zu bieten, um vor Allergien geschützt zu sein: Wie Schwedische Forschende der Universität Göteborg herausgefunden haben, können Tiere im Haushalt Kinder vor Allergien bewahren. Konkret bedeutet das: Je mehr Hunde, Katzen und andere Haustiere mit einem Kleinkind zusammenleben, desto grösser soll der Effekt sein.

Als Hygienehypothese ein Meilenstein

Die oben genannten Erkenntnisse und Studien sind für Dr. med. Stephan Sprute, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin FMH sowie Fachbereichsleiter der ambulanten Praxis für Kinder- und Jugendmedizin und Gynäkologie an der Klinik Arlesheim, keine Überraschung. «In der integrativen Medizin hat das Lebensumfeld, die Umgebung des Kindes, der Kontakt zur Natur grundsätzlich eine zentrale Bedeutung für die Gesundheit des Kindes. Und das nicht nur in Bezug auf Allergien.» Laut Stephan Sprute ist dieses Phänomen unter anderem auf den frühen Kontakt mit Mikroorganismen, Keimen und Tieren zurückzuführen. «Die Hygienehypothese beim Thema Allergien ist ein Meilenstein», betont der Facharzt und plädiert dafür, dass Kinder möglichst viel Zeit in der Natur verbringen sollten. «Es geht dabei auch um eine gesunde Haltung gegenüber der Natur und ein Sich- Erleben in und mit der Natur. Wenn man den Kindern den Raum dafür gibt, dann passiert genau das, und wir sehen, wie das anregend und harmonisierend auf die Lebensprozesse des Kindes wirkt.»

Weitere Einflussfaktoren

Neben dem Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, beeinflussen allerdings laut Stephan Sprute noch weitere Faktoren das Risiko für Allergien und Asthma. Die Entstehung von Allergien sei multifaktoriell. Eine europäische Studie mit über tausend Kindern hat 2019 gezeigt, dass antibiotische Behandlungen während der Schwangerschaft zu einem erhöhten Risiko beim Kind für Neurodermitis und Nahrungsmittelallergien führen. Eine natürliche Geburt reduziert offenbar das Allergierisiko im Gegensatz zu einem Kaiserschnitt. Ausschliessliches Stillen in den ersten vier Lebensmonaten reduziert gemäss Studien das Allergierisiko ebenfalls. Eine vollwertige Ernährung mit natürlichen Lebensmitteln und möglichst ohne Zusatzstoffe ist, so Stephan Sprute, grundsätzlich für eine gute Gesundheit essenziell. Das zeige auch, dass Übergewicht mit einem erhöhten Risiko für Allergien einhergehe. Vitamin-D-Mangel, Rauchen während der Schwangerschaft, Passivrauchen, Schadstoffe in Innenräumen und Schimmel sind weitere Beispiele, die Allergien begünstigen.

Anthroposophischer Lebensstil

Eine schwedische Studie mit über 6000 Kindern aus fünf europäischen Ländern hat schon im Jahr 2006 ergeben, dass Kinder aus Familien mit anthroposophischem Lebensstil ein reduziertes Allergierisiko haben. Unter anderem wurde das auf den zurückhaltenden Einsatz von Antibiotika und fiebersenkenden Medikamenten zurückgeführt. Eine weitere Auswertung von insgesamt 34 Studien mit mehr als 340 000 Patient*innen hat gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für Heuschnupfen, Kontaktekzeme und Lebensmittelallergien nach Antibiotikakontakt in den ersten zwei Lebensjahren erhöht ist. «Eine ganz neue Studie von 2022 zeigt in einer Analyse von 160 Studien ebenfalls einen klaren Zusammenhang zwischen Antibiotikabgabe im Kindesalter und allergischen Erkrankungen», ergänzt Stephan Sprute.

Individuelle Unterstützung des Kindes

Die integrative Medizin, wie sie zum Beispiel an der Klinik Arlesheim gepflegt wird, berücksichtigt laut Stephan Sprute bei der Allergiebehandlung das gesamte Umfeld von Kindern und ihren Familien. «In unserer Praxis für Kinder- und Jugendmedizin an der Klinik sehen wir Allergien auch in diesen angesprochenen Lebenszusammenhängen und der Reifung des Kindes und Jugendlichen. Damit eröffnen sich weitere Möglichkeiten, um das erkrankte Kind neben der konventionellen Therapie bei Bedarf individuell zu unterstützen.»

Allergische Reaktionen passierten an den Grenzflächen von Innenwelt und Aussenwelt im Zusammenhang mit der kindlichen körperlichen und seelischen Autonomieentwicklung. Die Behandlung und Begleitung sei daher immer sehr individuell. «Wir setzen natürliche Heilmittel zur Unterstützung ein, ebenso künstlerische Therapien und Massnahmen, welche die Konstitution stärken, achten auf die Ernährung und arbeiten selbstverständlich, wo erforderlich, auch mit konventionellen symptomatischen Therapien», erklärt Stephan Sprute und betont: «Wir zielen darauf ab, möglichst nicht nur einzelne Symptome zu behandeln, sondern immer auch die Gesundheit zu stärken, anregend und harmonisierend auf die Lebensprozesse des Kindes einzuwirken.» Der salutogenetische Ansatz bezieht sich laut Stephan Sprute ebenso auf die Prävention während der Schwangerschaft. Gleiches gelte für die Entbindung mit dem Ziel, eine natürliche Geburt zu fördern.

www.klinik-arlesheim.ch

 

 

Fast ein Drittel davon betroffen

Allergien gehören zu den häufigsten nicht übertragbaren Erkrankungen und im Kindesalter zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt. Weltweit ist die Anzahl der Allergiker*innen seit dem Ende der 20er-Jahre von zwei auf zwölf Prozent gestiegen. In der Schweiz sind rund ein Viertel bis ein Drittel der Kinder betroffen. Mehr als 12 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz leiden an Asthma. Hat ein Elternteil eine Allergie, beträgt das Risiko für das Kind laut dem Allergiezentrum Schweiz (aha) gut 30 Prozent, ebenfalls eine zu entwickeln. Sind beide Elternteile von Allergien betroffen, steigt das Risiko auf 60 Prozent.

www.aha.ch

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