Warum ist die Liebe oft so kompliziert?

Am Anfang ist alles wunderbar. Schmetterlinge flattern im Bauch, die Wolken sind rosa – doch dann kommt der Alltag, und die Erwartungen an die «grosse Liebe» verfliegen mit den ersten Konflikten. Warum sind Beziehungen oft so schwer? Wir gehen auf Spurensuche und halten schon mal fest: es gibt kein Patentrezept – aber Lösungsvorschläge.

Markus Kellenberger

Das Konzept der Ehe oder einer Beziehung stellten sich meine Grosseltern noch ganz anders vor als ich. Sie lebten 65 Jahre lang zusammen. In all dieser Zeit assen, sassen, standen, gingen und schliefen sie immer nebeneinander. Als Grossmutter starb, folgte ihr Grossvater nach wenigen Monaten nach. Ich habe sie nie körperliche Zärtlichkeiten austauschen sehen, aber sie waren ein Paar. Die sexuelle Revolution der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts ging spurlos an ihnen vorbei, und über die heutige Geschlechterdebatte hätten sie – nebeneinander auf dem Sofa sitzend – verständnislos den Kopf geschüttelt. Unsere Vorstellungen von Liebe haben sich in den letzten Jahrzehnten und mit der zunehmenden Individualisierung rasant geändert, zumindest in der westlichen Welt. Und interessanterweise nähert sie sich teilweise wieder unserem Urzustand an, denn unsere Biologie hinkt der erst in den letzten zwei, dreitausend Jahren stark gewordenen Idee der monogamen Ehe zwischen Mann und Frau hinterher.

«Unsere Vorstellungen von Liebe haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert, doch unsere Biologie bleibt dieselbe.»

Unser schwieriges, biologisches Erbe
In der rund 2,5 Millionen Jahre dauernden Steinzeit, in der sich der Mensch zu dem entwickelte, der er heute ist, lebten wir in kleinen Gruppen, und lebenslange Monogamie dürfte die Ausnahme gewesen sein. Das jedenfalls sagen Anthropologen, die heute noch existierende Urvölker und unsere eigene Vergangenheit studieren. So zum Beispiel der Zürcher Professor Carel van Schaik. «Wir sind schizosexuell», nennt er dieses biologische Erbe. «Wir sind auf Bindung ausgelegt, andererseits immer empfänglich für neue Reize.» Will heissen: der Mensch braucht Nähe und Autonomie, Sicherheit und Abenteuer – und am liebsten alles gleichzeitig. Kein Wunder also, dass Monogamie nicht so mühelos funktioniert, wie wir das gerne hätten.

Das Konzept der lebenslangen Ehe zwischen Mann und Frau wurde erst mit der beginnenden Sesshaftigkeit vor rund 7000 Jahren langsam entwickelt. Sesshaft zu sein, statt sammelnd und jagend herumzuziehen, ermöglichte Menschen erstmals Besitz anzuhäufen – und dazu zählten schnell auch Frauen und Kinder, und mächtige Männer prahlten gerne mit ihren Harems. Der biblische König Salomon beispielsweise soll tausend Frauen sein Eigen genannt haben. Das war natürlich nicht einfach nur ungerecht, sondern auch teuer, und nicht zuletzt deshalb reduzierte sich der männliche Besitzanspruch mit der Zeit, und es etablierte sich die kostengünstigere Zweierbindung, die später auch von Kirche und Obrigkeit zum Gesetz erhoben wurde. Selbstverständlich unter der Prämisse, dass der Mann der Herr im Hause ist.


Nähe und Freiheit – das ewige Dilemma
Dank dem Kampf der Frauen um ihre Freiheit und der daraus resultierenden Emanzipationsbewegung ist der absolute Herrschaftsanspruch der Männer heute – weitgehend – Geschichte, und nicht nur das: unabhängig von der sexuellen Orientierung dürfen wir heute in Ehen, in freien oder seriellen Partnerschaften und in offenen oder polyamurösen Beziehungen leben, ganz wie es dem einzelnen Menschen gefällt. Aber wie auch immer, alle Beteiligten stellen dabei regelmässig fest, dass jede mögliche Beziehungsform mehr Schwierigkeiten und Dramen mit sich bringt, als sie erwartet hätten.

Wie bereits erwähnt, unsere Biologie, unser tief verankerter Wunsch nach Bindung und gleichzeitig auch nach Distanz, ist das grösste Dilemma fast jeder Beziehung. Hier entstehen die meisten Konflikte: Wir wollen gleichzeitig Nähe und Freiheit; wir sehnen uns nach tiefer Bindung und fürchten gleichzeitig, uns selbst darin zu verlieren. Die Bindungsforschung zeigt, dass Menschen unterschiedlich mit diesen beiden Polen umgehen. Sie hat drei Grundmuster herausgearbeitet, die selbstverständlich auch in Mischformen vorkommen:

  • Unsicherängstliche Menschen neigen dazu, sich in Beziehungen festzuklammern. Sie brauchen viel Bestätigung und fürchten selbst in ungesunden Beziehungen nichts mehr, als verlassen zu werden.
  • Vermeidendunsichere Menschen hingegen fühlen sich schnell eingeengt und suchen unbewusst Distanz. Zu viel Nähe löst bei ihnen Angst und einen Fluchtreflex aus.
  • Sicher gebundene Menschen können Nähe geniessen, ohne sich selbst zu verlieren.

Das Problem dabei ist, sagt die Bindungsforschung: Menschen mit entgegengesetzten Mustern ziehen sich oft an. Der eine will mehr Nähe, der andere braucht mehr Distanz – und beide fühlen sich unverstanden. Krisen und Streit sind hier vorprogrammiert.

Das Märchen von der grossen Liebe
Unzählige Liebesromane und Liebesfilme haben uns eingeredet, dass die Liebe ein magischer Zustand ist, der für immer halten soll. Die perfekte Person taucht auf, man verliebt sich, geht eine Beziehung ein – und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Nirgends in solchen Geschichten und Märchen ist die Rede von den darauf folgenden Problemen, Dramen, Streitereien und Zweifeln, es gibt nur das ewige Glück. Aber die Realität ist für die meisten Menschen eine andere. In der Psychologie sprechen Fachleute von der Phase der «obsessiven Verliebtheit», aus der die ersten Monate oder Jahre einer Beziehung bestehen. Die vielen Glückshormone lassen einem in dieser Zeit nicht mehr klar denken. Alles ist aufregend, jede Berührung elektrisierend, aber irgendwann holt alle das wahre Leben ein. Rechnungen, Haushalt, Stress im Beruf – und irgendwann kommt der Tag an dem der vermeintliche Seelenverwandte vergisst, den Kehrichtsack rauszubringen, und plötzlich stellt man sich die Frage: «War es das nun?» Das Problem dabei ist nicht, dass die Liebe nachlässt, sondern dass wir erwarten, dass sie sich ewig wie am ersten Tag anfühlt. Jürg Willi, der Schweizer Psychologe und Begründer der modernen Paartherapie, betonte in seiner Arbeit immer, dass die romantische Liebe als kulturelles Ideal masslos überhöht werde, was zu unrealistischen Erwartungen führe. Und die New Yorker Paartherapeutin und Buchautorin Esther Perel meint dazu, romantische Liebe sei wie ein Lagerfeuer. «Wenn du kein Holz nachlegst, geht es aus.» Was Willi und Perel damit sagen wollen, ist ganz einfach dies: Wer seine Beziehung einer Idealvorstellung überlässt, statt sie aktiv zu gestalten, bleibt am Ende in Frust und Routine stecken – und hofft im Stillen, dass «die richtige Person» doch noch irgendwann kommt. Beziehungen funktionieren nicht nach dem Prinzip «finden und fertig». Sie sind etwas, an dem man ständig arbeiten muss.

Der giftige Wurm in der Beziehung
Noch nie war es so einfach, einen potenziellen Partner oder eine Partnerin zu finden wie heute, und noch nie war es so schwer, sich auf eine Beziehung einzulassen. Allein schon die unzähligen Dating-Apps gaukeln uns eine Welt der unendlichen Möglichkeiten vor. Mit einem Wisch nach links oder rechts bewerten wir potenzielle Partner wie Produkte in einem Onlineshop. Das Problem dabei: zu viele Optionen machen uns unzufrieden. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz nennt das, das Paradoxon der Wahl, denn je mehr Auswahl wir haben, desto schwerer fällt es uns, eine Entscheidung zu treffen, weil gleichzeitig auch die Angst wächst, etwas «noch Besseres» zu verpassen.

«Liebe wird überschätzt, überschätzt bis zur totalen Überfrachtung», sagt Klaus Heer, der Doyen der Schweizer Paartherapie. Deshalb würden wir erwarten, dass ein Partner uns vollständig glücklich machen soll, uns versteht, und uns niemals langweilt – aber das sei völlig unrealistisch. Die weit verbreiteten und überhöhten Vorstellungen einer romantischen Liebe seien «wie ein giftiger Wurm», der tief in unseren Erwartungen sitze. «Die Idee von einem einzigen Menschen, der alle unsere Bedürfnisse für immer erfüllt», sagt Heer, «ist ganz einfach eine Illusion.» Paare, die sich vom Druck dieses Ideals befreien können, hätten deshalb die besten Chancen auf eine langfristig funktionierende und sich gegenseitig bereichernde Beziehung. Sein Rat: «Erwarten Sie von Ihrer Beziehung weniger Perfektion – und üben Sie sich dafür in Akzeptanz.» Eine Beziehung sei kein Wunschkonzert, sondern ein Zusammenspiel zweier Menschen mit Eigenheiten, Stärken und Schwächen.

Und genau deshalb, weil jeder Mensch eigen ist und auch in einer Beziehung so gesehen werden will, haben auch Andrea und Peter Frölich-Oertle einen wichtigen Rat bereit: «Liebe», sagen die beiden, die in Basel und im Berner Oberland als Paar Paare in Krisenzeiten begleiten, «wird oft mit lieb sein verwechselt». Ständiges Liebsein funktioniere aber nur mit erzwungenen Anpassungen auf beiden Seiten, und das wiederum führe früher oder später zum Konflikt. Deshalb ist für das Therapeutenpaar klar: «Zeigt euch einander so, wie ihr wirklich seid, wenn ihr eine tragfähige Liebe aufbauen wollt.»

«Liebe ist kein Wunschkonzert, sondern ein Zusammenspiel zweier Menschen mit Eigenheiten, Stärken und Schwächen.»

Erkenne dich selbst
Sich dem geliebten Menschen so zu zeigen, wie man wirklich ist, verlangt den Mut zur Selbstreflexion. Und da spielt ein oft unterschätzter Faktor eine wichtige Rolle, nämlich das innere Kind. Die beiden Psychotherapeutinnen Erika J. Chopich und Margaret Paul haben dieses psychotherapeutische Behandlungskonzept unter dem Namen «Inner Bonding Therapy» vor rund 50 Jahren so populär gemacht, dass es aus den USA schnell auch in Europa Eingang in die Paar- und auch in die Einzelberatung fand. In diesem Konzept steht das innere Kind für unsere tiefsten emotionalen Prägungen, unsere Ängste, Sehnsüchte und Verletzungen aus der Kindheit, die auch das spätere Erwachsenen- und das Beziehungsleben beeinflussen.

Viele Konflikte in Beziehungen entstehen deshalb, weil Menschen von ihrem Partner unbewusst erwarten, dass er ihnen das gibt, was sie als Kind nicht bekommen haben. Das kann emotionale Sicherheit, bedingungslose Liebe oder Bestätigung sein. Bei ihrem Konzept legen Chopich und Paul deshalb den Fokus darauf, dass Menschen lernen, ihr inneres Kind selbst zu nähren, anstatt diese Aufgabe dem Partner aufzubürden. Ihr Kernsatz lautet: «Eine Beziehung ist dann stabil und auf Augenhöhe, wenn beide Beteiligten die Verantwortung für ihr eigenes emotionales Wohlbefinden selbst übernehmen, und dies nicht dem Partner überlassen.»

Meine Grosseltern hatten von all diesen Konzepten, Therapieformen und Forschungsergebnissen zum Thema «Beziehung» keine Ahnung, und sie haben bestimmt auch nicht «die» perfekte Beziehung gelebt und sich bisweilen gegenseitig erduldet. Aber ich bin mir sicher: die Art und Weise, wie sie 65 Jahre miteinander verbracht haben, hat für beide weitgehend gestimmt. Und das ist wohl auch, das grosse Geheimnis der Liebe: eine Beziehungsform finden, die zu einem passt, in der man sich wohl fühlt und die Andersartigkeit des Gegenübers respektiert. Das ist es, was am Ende wirklich zählt.

 

Wie Beziehungen funktionieren können
Bei all den Problemen, die das Zusammenleben von zwei Menschen in einer Beziehung mit sich bringt, und unbesehen davon, wie viele auch wieder auseinander gehen, gibt es eine gute Nachricht: Beziehungen sind nicht per se zum Scheitern verurteilt, und jede Krise ist eine Chance, sie noch stärker zu machen. Das erfordert jedoch den Willen zur offenen Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der Partnerin und dem Partner, und mit der gewählten Form der Beziehung.

Auch wenn sie sich ähneln, hier sind kurz zusammengefasst je drei essenzielle Ratschläge von erfahrenen Paartherapeuten für eine gute Beziehung:

Andrea Frölich Oertle und Peter Oertle

  • Selbstreflexion: Welche Muster bringst du in die Beziehung ein?
  • Offene Kommunikation: Bedürfnisse und Erwartungen klar aussprechen.
  • Gemeinsames Wachstum: Die Beziehung als etwas Dynamisches begreifen.
  • Aus ihrem Buch «Drei Schritte ins Paaradies – Frieden finden zu zweit».

Jürg Willi

  • Selbstreflexion: Warum gerätst du immer wieder in ähnliche Konflikte?
  • Kommunikation statt Projektion: Streit entsteht oft aus unausgesprochenen Erwartungen und Ängsten.
  • Dynamik verstehen und verändern: Paare sollen sich bewusst aus negativen Mustern lösen.
  • Aus seinem Buch «Die Zweierbeziehung».

Michael Mary

  • Beziehungen sind keine Projekte: Sie lassen sich nicht perfekt planen oder optimieren.
  • Realistische Erwartungen setzen: Der Wunsch nach der perfekten Liebe führt oft zu Frustration.
  • Konflikte gehören dazu: Sie sind kein Zeichen für das Scheitern einer Beziehung, sondern ein natürlicher Bestandteil.
  • Aus seinem Buch «Lebt die Liebe, die Ihr habt – wie Beziehungen halten».

Die Sache mit dem Sex
Am Anfang der Beziehung liegen die Kleider schon verstreut im Treppenhaus herum, später nur noch im Wohnzimmer und bald darauf fein säuberlich gefaltet dort, wo sie hingehören. So verändert sich im Laufe der Zeit in jeder Beziehung die Sexualität. In Langzeitbeziehungen lässt die Lust oft nach und pendelt sich in einem für beide Seiten mehr oder weniger befriedigenden Muster ein, und so schleicht sich Langeweile ein in die wichtigste Nebensache der Welt.

Das muss nicht sein, findet die amerikanische Sexualtherapeutin Emily Nagoski, denn ein erfülltes, sinnliches Sexleben bereichert jede Beziehung. Aber: Begehren, Leidenschaft und Sex sind selbst in einer guten Beziehung keine Selbstläufer. Sie müssen gepflegt und hin und wieder mit neuen Ideen und Variationen lebendig gehalten werden. Mit Neugier, Offenheit und kleinen Veränderungen kann die Leidenschaft zurückkehren – ohne Druck, sondern durch bewusste Nähe.

Gas- und Bremspedal
«Sexuelles Verlangen», sagt Nagoski, «wird von zwei Mechanismen gesteuert.» Da sei einerseits das «Gaspedal», auf das man tritt, wenn Reize Lust auslösen, anderseits das «Bremspedal», auf dem wir stehen, wenn sich Stress, Sorgen und Unsicherheiten ins Leben schleichen. Die beste Art, die Bremse zu lösen, sei deshalb bewusst zu entspannen um Stress abzubauen, und sich Räume zu schaffen, in denen nicht gleich «aufs Ganze» gegangen wird, sondern wo Platz für Selbstfürsorge, emotionale Nähe und Kuscheln sei. Die Sexualtherapeutin rät: «Küssen Sie sich öfters ohne Erwartungsdruck, berühren Sie sich im Alltag wieder häufiger und nehmen Sie sich Zeit füreinander ohne Ablenkung.»

Zeit zum kuscheln
Besonders wichtig für guten Sex ist, miteinander zu reden. Und das aus einem ganz bestimmten Grund. «Frauen haben genauso Lust auf Sex wie Männer – aber anders.» Während viele Männer schnell «zur Sache» kommen möchten, legen Frauen mehr Wert darauf, dass erst eine vertrauensvolle, intime Atmosphäre entsteht. Und die kommt am Besten durch reden, sich einander zuwenden, zärtlich sein und kuscheln zustande. Hier dürfen ruhig auch die eigenen Wünsche und Träume ausgetauscht werden.

«Leidenschaft entsteht durch Nähe und Veränderung.»

Erwartungen loslassen
Viele Paare haben feste Vorstellungen, wie Sex sein sollte, und das kann leicht zu Frustration führen, weil der Partner da nicht mitzieht. Deshalb gilt: Erwartungen – die Porno-Industrie hat da einen nicht zu unterschätzenden Einfluss – loslassen, ebenso vom Pflichtgefühl, das Gegenüber befriedigen zu müssen oder befriedigt zu werden. Denn es ist nicht die Leistung, die zählt, sondern der Genuss.

Kleiner ist feiner
Gemeinsam Neues zu Entdecken macht Spass. Hier rät Emily Nagoski zu kleinen Veränderungen, statt die gewohnte Sexualität gleich völlig auf den Kopf stellen zu wollen. Akrobatische Einlagen sind sowieso völlig unnötig und meistens alles andere als der Lust zuträglich. Deshalb gilt: Warum nicht wieder mal auf dem Sofa, statt im Bett. Lust wächst an den kleinen Veränderungen.

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