Unsichtbare Bahnen mit spürbarer Wirkung
Man sieht sie nicht, doch man spürt sie – dann nämlich, wenn sie blockiert sind und Symptome wie Verspannungen, Schmerzen oder psychische Probleme auslösen. Verschiedene naturheilkundliche und komplementärtherapeutische Methoden arbeiten deshalb an den Meridianen, damit der Energiefluss wieder in Schwung kommt.
Fabrice Müller, Illustration: Sonja Berger

Schon wieder diese Lust auf Schokolade! Dabei wäre es doch toll, wenn diese Essensgelüste endlich verschwinden würden. Am liebsten ohne grossen Aufwand. Vielleicht weiss das Internet Rat. Tatsächlich! Das Netz schlägt unter anderem die «Emotional Freedom Technique» (EFT) vor. Es handelt sich dabei um eine Art Klopftechnik, über die man direkt die eigenen Gefühle ansteuert und beeinflusst. Bestimmte Körperpunkte, die in der Akupunktur mit Nadeln aktiviert werden, stimuliert man in der EFT mit den Fingerspitzen. Diese Akupunkturpunkte sind wie auf einer unsichtbaren Landkarte über den ganzen Körper verstreut, jedoch entlang der sogenannten Energieleitbahnen miteinander verbunden – wie auf einer Perlenkette aufgefädelt. Diese Bahnen – auch Meridiane genannt – führen die Lebensenergie Qi zu allen Körpergebieten. Jede dieser Bahnen steht in Verbindung zu bestimmten Organen, Strukturen und emotionalen Themen.
Zwölf Hauptlinien
Viele Krankheiten, aber auch falsche Gewohnheiten wie zum Beispiel Schokoladensucht und psychische Probleme, behindern den Qi-Fluss. Qi, ebenfalls bekannt als Prana oder Lebenskraft, durchströmt den Körper und beeinflusst unser physisches und emotionales Wohlbefinden. Die Meridiane transportieren als ein weit verzweigtes System von Kanälen diese unsichtbare Energie durch den ganzen Menschen.
Die Lehre der Meridiane bildet die Grundlage verschiedener Heilmethoden. Meist wird dabei zwischen zwölf Hauptlinien unterschieden. Sie gelten als die wichtigsten Aspekte des Leitbahnsystems und sind jeweils einem Funktionskreis zugeordnet. Die Bahnen verlaufen längs der Körperachse. Weitere Leitbahnen sind innere Zweige der zwölf Hauptleitbahnen. Dadurch dienen sie auch als Verbindung zwischen «innen» und «aussen».
Dreh- und Angelpunkt
Die Arbeit über die Meridiane ist zum Beispiel ein zentraler Bestandteil der sogenannten APM-Therapie, die sich aus der Akupunktmassage nach Penzel und der Akupunktur-Massage nach Radloff entwickelt hat. Diese Methode der KomplementärTherapie vereint östliche Energielehren der klassischen Chinesischen Medizin mit westlichen Techniken. Der Therapieansatz, der von Willy Penzel (1918–1985) an westliches Gedankengut angepasst wurde, basiert auf dem Ausstreichen der Meridiane. «Der Fluss der Lebensenergie Qi ist Dreh- und Angelpunkt der APM-Therapie», sagt Barbara Fuchs, Komplementärtherapeutin und Naturheilpraktikerin – jeweils mit eidg. Diplom – sowie Bereichsleiterin APM-Therapie KT an der Fachschule Bodyfeet. Die APM-Therapie verfolge das Ziel, das energetische Ungleichgewicht zu finden und auszugleichen, damit die Lebensenergie wieder ungehindert fliessen kann.
Es beginnt beim Ohr
Das Ohr dient in der APM-Therapie oft als Ausgangspunkt der Behandlung. Hier startet die Befunderhebung, kombiniert mit Bewegungstests. «Am Ohr finden wir unzählige Reflexzonen, die mit dem gesamten Körperenergiefeld, den einzelnen Meridianen und den Organen verbunden sind», begründet Barbara Fuchs.
Durch das Abtasten der Reflexzonen am Ohr erhält die Therapeutin Hinweise auf den energetischen Zustand ihrer Klientinnen und Klienten. «Die Ursache für ein Symptom ist häufig nicht am Ort der Beschwerde zu finden, sondern kann durch Gelenkblockaden, Organfehlfunktionen oder auch aus äusseren Einflüssen entstehen», gibt Barbara Fuchs zu bedenken.
Meridiane ausstreichen
Die APM-Therapie nutzt das Meridiansystem für die gezielte Behandlung. Diese ist allerdings nicht-invasiv – wie etwa bei der Akupunktur – , sondern findet auf der Hautoberfläche statt. Mit Hilfe eines Metall- bzw. Therapiestabes werden die Meridiane gestrichen und von Blockaden befreit. «Beim Ausstreichen der Meridiane erspüren wir energetische Störungen im System. Durch das Setzen von gezielten Reizen auf der Hautoberflächen bringen wir den Energiefluss wieder in Schwung», beschreibt Barbara Fuchs das Vorgehen.
Hierbei nutzt die APM-Therapie unter anderem ausgewählte Akupunktur-Punkte nach den Regeln der Traditionellen Chinesischen Medizin. Danach folgt die sanfte energetisch-statische Behandlung des Beckens und der Wirbelsäule, sowie der Arm- und Beingelenke. Hierdurch soll der ungehinderte Energiefluss wieder eine optimale Beweglichkeit ermöglichen. Immer wieder wird über die Punkte am Ohr der Klient*innen kontrolliert, wie sich der Energiefluss geändert hat.
Körperoberfläche als Ausgangspunkt
Für Barbara Fuchs ist das Meridiansystem mit einem Kanalsystem im Körper vergleichbar, obwohl es optisch nicht erfasst werden kann. «Ein gestörter Energiefluss ist oftmals Ausgangspunkt von Themen bzw. Symptomen physischer wie auch psychischer Art. Vieles, das sich später im Körper manifestiert, spielt sich zuerst innerhalb des Energiesystems ab.» Der Dünndarm-Meridian hat – wie gemäss seiner physiologischen Funktion im Körper – auch im übertragenden Sinn die Aufgabe, Reines von Unreinem zu trennen und auszusortieren. Auf psychologischer Ebene geht es um die Frage, welche Wege es sich lohnt, weiter zu verfolgen, und Klarheit im Herzen darüber zu erlangen, wovon wir uns trennen sollten. Er steuert über die Verdauung und Verteilung der Nährstoffe aus der Nahrung den gesamten Organismus. Auf der emotionalen Ebene gehört der Dünndarm zu der kraftvollen Emotion Freude.
Viele Behandlungsmöglichkeiten
Weil die Meridiane den gesamten Körper durchlaufen, verbinden sie oft Organe und Körperstellen, die man auf den ersten Blick so nicht vermuten würde. So steht beispielsweise der Blasenmeridian in Verbindung mit der Rückenmuskulatur: «Wer nach einer Erkältung unter Rückenschmerzen leidet, muss sich nicht wundern, denn ein starker Husten beispielsweise bringt meist eine Unterversorgung des Blasenmeridians mit sich – und dies wiederum kann den Rücken schwächen», beschreibt Barbara Fuchs die Zusammenhänge zwischen Meridiansystem und Körper.
Unterschiedlichste Symptome körperlicher und psychischer Art lassen sich mittels APM-Therapie über das Meridiansystem behandeln. Sie reichen von Beschwerden im Bewegungsapparat wie Rücken- oder Nackenschmerzen sowie Hüft- und Knieprobleme zu Verdauungs- und Schlafstörungen bis zu Kinderwunschthemen.
«Die Ursache für ein Symptom ist häufig nicht am Ort der Beschwerde zu finden.»
Grenzen der APM-Therapie
Die APM-Therapie stösst laut Barbara Fuchs aber auch an gewisse Grenzen, etwa bei Infektionskrankheiten oder akuten Herz-Kreislauf-Problemen, bei Risikoschwangerschaften sowie schweren psychischen Erkrankungen oder im Rahmen einer Krebsbehandlung. «Bei schwerwiegenden Krankheitsverläufen sollte eine APM-Therapie sehr zurückhaltend und nur mit entsprechender Erfahrung und je nach Krankheitsbild nur in Absprache mit der behandelnden medizinischen Fachperson erfolgen», betont Barbara Fuchs. Nicht selten kann eine APM-Therapie laut Barbara Fuchs in Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Berufsgruppen begleitend und unterstützend eingesetzt werden.
Qi Gong oder Tai-Chi verbessern den Qi-Fluss
Verschiedene Techniken wie Qi Gong oder Tai-Chi aus der alten chinesischen Medizin helfen, den Qi-Fluss in den Meridianen zu harmonisieren und die Selbstregulation zu aktivieren. Zudem werden energetische und emotionale Blockaden gelöst. Besonders durch die langsamen, bewussten Bewegungsübungen wird Druck und Zug auf die Meridiane ausgeübt.
Methoden und Meridiane
Akupunktur
Die Lehre der Meridiane ist die Grundlage nahezu jeder chinesischen Therapiemethode. Jeder Akupunktur-Punkt wird dabei einem spezifischen Organ, Lebensthema oder einem Symptom zugeordnet. In der Akupunktur werden diese Punkte durch äussere Reize vorwiegend mittels feiner Nadeln stimuliert. Diese Veränderung des energetischen Zustandes ruft Reaktionen auf physischer oder psychischer Ebene hervor – als Folge davon kommt es zu einem neuen Gleichgewicht im Energie- und Blutfluss und zu einer Verbesserung der Symptome. Fliesst das Qi ungehindert und steht im Gleichgewicht, fühlt sich der Mensch ausgeglichen und gesund.
Akupressur
Die Akupressur ist eng mit der Akupunktur verwandt. Bei dieser manuellen Behandlungsmethode wird auf den Körper stumpfer Druck an gemäss Befund definierten Akupunkturpunkten ausgeübt. Durch diese punktuelle Massage werden Meridiane und innere Organe beeinflusst. Der Qi-Fluss wird gefördert, die Meridiane reguliert und von Blockaden befreit sowie der Blutkreislauf belebt. Das Drücken von Akupunkturpunkten ist eine der ältesten Formen zur Förderung der ganzheitlichen Gesundheit. Sie ist Teil der über alten Chinesischen Medizin und wird international in verschiedenen Formen praktiziert.
Japanisches Heilströmen
Durch sanfte Berührungen unseres Körpers können die Selbstheilungskräfte für akute und chronische Erkrankungen aktiviert werden. Gemäss diesem Prinzip arbeitet man im japanischen Heilströmen, auch Jin Shin Jyutsu genannt, ebenfalls an den Meridianen. Das heisst: Gezielte Körperbereiche werden im Verlauf von Meridianen auf der Kleidung mit den Fingern berührt und längere Zeit leicht gehalten. Auf diese Weise finden die Menschen zu gesteigertem Wohlbefinden, innerem Gleichgewicht und neuer Lebendigkeit. Diese Technik kann relativ einfach gelernt und selbst angewandt werden. Jin Shin Jyutsu wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vom Japaner Jiro Murai wiederentdeckt.
Shiatsu
Shiatsu ist eine eigenständige Therapieform, die Parallelen zur TCM aufweist. In Japan ist Shiatsu als eigenständige Methode anerkannt mit spezifischen Behandlungstechniken. Über spezielle Dehn- und Rotationstechniken wird das Qi in Bewegung gebracht, sodass Körper und Seele in einen Ausgleich gelangen können.