Tausendsassa Mund
Der Mund ist das Tor zur Aussenwelt. Er ist die erste Station der Verdauung, ein Ausdruck von Emotionen, Kommunikationsmittel und Atmungsorgan. Kaum ein anderes Organ ist so vielseitig begabt wie unser Mund.
Sabine Hurni, Illustration: Lorena Hadorn
Kleinkinder erforschen die Welt und die Beschaffenheit der Dinge mit ihrem Mund. Ob etwas hart, weich, kalt, warm, rund oder eckig ist, können sie mit der Tastsensibilität der Lippen besser erfassen als mit den Fingern und Augen. Diese orale Phase geht vorbei, doch der Mund bleibt ein Menschenleben lang im Fokus. Er ist das Tor zwischen der Innen- und der Aussenwelt, wenn wir Empfindungen oder Gedanken aussprechen, lachen, rufen oder schreien.
Gleichwohl ist er auch umgekehrt das Tor, das Körperfremdes, also Nahrung, aufnimmt, verarbeitet und als erste Stufe der Verdauung mechanisch und enzymatisch zerkleinert. Damit jedoch nicht genug, denn der Mund spielt auch im Schutz gegen Krankheiten eine zentrale Rolle. Die Arbeit des Immunsystems beginnt bereits im Mund, weil dieser als Verbindung zwischen Aussen und Innen die erste Triage vornimmt. Keime und Krankheitserreger werden von der Mundschleimhaut erkannt und, so weit möglich, eliminiert. Darüber hinaus ist er aber auch Tastorgan, ein verbales und nonverbales Kommunikationsinstrument, ein Ausdrucksorgan und erotisches Lockmittel.
Die Anatomie des Mundes
Ob rot geschminkt, schmal, voll oder künstlich moduliert – Betrachten wir einen Mund, fallen zuerst die Lippen auf, zwei nichtpigmentierte, wulstige Wölbungen, die den Übergang zwischen der Haut und der Schleimhaut bilden. Sie dienen der Nahrungsaufnahme und können den Mund dicht verschliessen, um Wasser und zerkaute Speisen im Mundraum zurückzuhalten. Das Dach der Mundhöhle bildet hinter der Zahnreihe der harte Gaumen und weiter hinten beim Gaumensegel der weiche Gaumen. Der Gaumen trennt die Nase vom Mund und ist an der Zerkleinerung von Speisen beteiligt. Er leistet beim Schlucken den nötigen Widerstand und unterstützt die Zunge und die Lippen beim Sprechen.
Die Mundhöhle ist mit Schleimhaut ausgekleidet, in der sich zahlreiche schleimabsondernde Drüsen befinden. Wenn uns das Wasser im Mund zusammenläuft, weil wir Nahrung riechen, sehen oder an ein Lieblingsgericht denken, dann sind die Speicheldrüsen aktiv. Täglich produzieren die Drüsen rund zwei bis drei Liter Flüssigkeit. Darin befindet sich hauptsächlich Wasser, sowie Enzyme, Immunglobuline mit antibakterieller Wirkung sowie die Amylase, das Enzym, das Kohlenhydrate aufspaltet.
« Der Mund ist das Tor zwischen der Innen- und der Aussenwelt.»
Am Ober- und Unterkiefer geht die Mundschleimhaut in Zahnfleisch über, in dem die insgesamt 32 Zähne fest verankert sind. Durch das Zusammenspiel von vier grossen Muskeln, die Schläfen und Unterkiefer verbinden, kommt die Kaubewegung zustande, die uns das Zerkleinern von Speisen ermöglicht. Das Stück Apfel, das die vorderen Zahnreihen abgebissen haben wird durch seitliches Kauen immer wieder zwischen die beiden Backenzahnreihen befördert. Diese zermalmen die Nahrung, speicheln sie ein und spalten sie enzymatisch auf. Deshalb ist das Kauen der Nahrung von grösster Wichtigkeit.
wMit den Sinnen essen
Damit das Essen kein ausschliesslich mechanischer Akt, sondern zum sinnlichen Erlebnis wird – oder zum Schutz vor Ungeniessbarem das Überleben sichert – braucht der Mensch seine Zunge. Sie ist ein beweglicher Muskel, der übersäht ist mit Geschmackspapillen und Tastsinnen. Die Geschmacksrezeptoren befinden sich in grosser Dichte in den seitlichen Zonen der Zunge, am Gaumensegel, im Kehlkopf und in der oberen Speiseröhre. Jede dieser Geschmackspapillen besteht aus mehreren hundert Geschmacksknospen, die wiederum bis hundertfünfzig Geschmackssinneszellen enthalten. Die Fähigkeit der Zunge, Geschmäcker voneinander zu unterscheiden, ist somit enorm, nimmt jedoch mit zunehmendem Alter ab.
Die Tastsinne der Zunge sind wichtig, um Splitter, Gräte oder durch Nahrung eingenommene Verunreinigungen zu erkennen. Was diesen entgeht, weil die Gefahr vielleicht bakterieller Natur ist, erfüllt der Zungengrund, der hinterste Teil der Zunge. Dort sitzen die Abwehrzellen, die ein Schutzschild gegen Keime bilden. Im hintersten Bereich des Mundes befindet sich zudem der Kehlkopf, die Stimmbänder und die Stimmritze.
Der Mund als Sprechorgan
Zusammen mit dem Mund als Resonanzraum und der Stärke des Luftstroms, der auf die Stimmbänder einwirkt, können wir den Mund zum Sprechen, Klingen und Singen bringen. Die Sprachentwicklung beginnt bereits im ersten Lebensjahr mit einfachen Worten wie «Mama», «Papa» oder «Auto». Der französische Schriftsteller Marcel Pagnol meinte zu diesem Thema: «Im Leben lernt der Mensch zuerst gehen und sprechen. Später lernt er dann, still zu sitzen und den Mund zu halten.»
Das Sprechen, manche Leute beherrschen es ohne Punkt und Komma, ist ein komplexer Prozess, der mit dem Öffnen und Schliessen der Stimmlippen, der Atmung und der Position von Lippen und Zunge zusammenspielt. Bei der Bildung von Vokalen wie A, E, I, O, U oder Resonanten wie M, N, L, J, W sind die Stimmlippen so in die Länge gezogen, dass sie sich nicht berühren. Kommt nun ein Luftstrom aus der Lunge, beginnen die Stimmbänder zu pulsieren. Ein Ton erklingt.
Für die Bildung von unterschiedlichen Tönen und Lauten muss der Luftstrom im Mund moduliert werden. Das heisst, die Luft wird mit Hilfe von Oberlippe, Oberzähnen, harter und weicher Gaumen wie auch mit der Zunge und der Unterlippe geformt. Das ist beim Reden nicht anders als beim Singen. Als kleiner Selbstversuch: Atmen Sie ein und sprechen Sie ein L und dann mit unveränderter Mundhaltung ein A. Geht nicht. Und jetzt sprechen Sie die Buchstaben L, U, F, T einzeln und langsam vor sich hin. Nicht nur die Lunge und der Luftstrom, sondern das ganze Gesicht sind aktiviert.
Mimik – der Mund spricht auch ohne Worte
Selbst wenn der Mund geschlossen bleibt und keine Worte über die Lippen kommen: Der Mund kommuniziert trotzdem. Rund um dieses Organ befinden sich so viele Mimikmuskeln, die eine direkte Verbindung zum Gehirn haben, dass unser Mund die Gedanken und Gefühle sehr deutlich spiegelt. Ob ein Lächeln auf den Lippen liegt, die Mundwinkel nach unten zeigen, die Lippen aufeinandergepresst sind oder der Unterkiefer nach unten hängt sagt einiges aus über den Menschen als fühlendes Wesen.
Für den Ausdruck von Emotionen ist der Mund absolut zentral. Ist jemand verärgert, pressen die Lippen aufeinander, der Unterkiefer schiebt sich leicht vor und die Augenbrauen ziehen nach unten. Möchte diese Person die Wut überspielen oder unterdrücken, zeigt sich diese Mimik als kleinste, ja gar subtile Zuckungen, die über das Gesicht huschen. Freuen wir uns über ein Ereignis, ein Kompliment oder ein Geschenk, so zucken die Mundwinkel nach oben, selbst wenn jemand die Freude zu verstecken versucht. Beim Empfinden von Ekel kräuseln sich die Lippen, bei Überraschung fällt die Kieferlade nach unten und im Zustand der Angst und Unsicherheit zieht die Unterlippe seitlich zur Seite. Politiker*innen ohne Mimik trauen wir nicht über den Weg, einem Menschen, der nur mit dem Mund lächelt, nehmen wir die Freude nicht ab und unbedachte Worte sind wie Waffen, die verletzen und zerstören können.
Münder in Kunst und Gesellschaft
Die Mimik des Mundes, seine Erotik wie auch seine Symbolkraft begegnet uns auch im Theater, in der Filmindustrie wie auch in der Literatur. Die volle Lippe gilt als Schönheitsideal, was zur Folge hat, dass aufgespritzte Lippen nicht mehr zur Luxusbehandlung von in die Jahre gekommenen, reichen Frauen gehören, sondern leider auch bei jungen Frauen im Trend liegen. In den Märchen symbolisiert der Kuss, beziehungsweise der Kontakt mit dem Mund, den Übergang zwischen dem magischen Zustand und der Normalität. So zum Beispiel beim Froschkönig, der nach dem Kuss zum Prinzen wird oder der Prinz, der das Dornröschen aus dem hundertjährigen Schlaf küsst.
Menschen, denen es nach einem Unfall oder durch eine angeborene Beeinträchtigung nicht möglich ist, ihre Hände zu benutzen, können mit sehr viel Geduld und Übung mit dem Mund höchst komplexe motorische Fähigkeiten wie zum Beispiel Malen erwerben. Das ermöglicht den Menschen, einen Selbstausdruck, eine Unabhängigkeit und eine Freiheit. Die Genossenschaft mund- und fussmalende Künstler (GMFK) betreibt eine sehr berührende Webseite. Ein Besuch lohnt sich.
Mund, Hand und Kulinarik
Überhaupt ist die Hand eng verknüpft mit dem Mund. Das beginnt im Kleinkindesalter und hört eigentlich nie auf. Was wir mit den Händen zum Mund führen, wird als intensiveres Geschmackserlebnis empfunden als das sittsame Essen mit Messer und Gabel. Was den Genuss um ein Mehrfaches steigert, ist das Ablecken der Finger nach dem Verzehr eines Mandelgipfels oder eines Pouletschenkels. Das liegt daran, dass der Tastsinn in den Fingerspitzen eng mit den Geschmacksknospen der Zunge verbunden ist.
Gemäss Professor Charles Spence, einem Psychologen an der Oxford University, schmeckt das Essen auch besser, wenn der Mund dabei geöffnet ist. Grund dafür ist, dass sich auf diese Weise mehr flüchtige organische Stoffe freisetzen, die den Geschmack erhöhen. Er hat auch erforscht, dass der Mensch es mag, wenn das Essen im Mund kracht und knackt. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn man die Karotte mit offenem Mund isst – das heisst: Werfen Sie in einem unbeobachteten Moment mal alle Tischmanieren über Bord und geben Sie sich der «primitiven» Art des Essens hin. Geniessen Sie das Essen mit den Händen, kauen Sie geräuschvoll, schmatzen Sie mit offenem Mund und lecken Sie danach die Finger ab, um den grösstmöglichen sensorischen Genuss zu erleben!