Entdecke dein inneres Kind

Wer sich besser verstehen will, sollte sich mit seinem inneren Kind anfreunden. Lieben wir es bedingungslos, können wir unser volles Potenzial entfalten.

Lioba Schneemann Illustration: Sonja Berger

Im Alltag erleben wir hin und wieder Situationen, in denen wir nicht so reagieren, wie wir es uns wünschen: Wir ärgern uns über das kritische Wort, anstatt gelassen zu bleiben, sind enttäuscht über eine Absage. Wir fühlen uns übergangen oder denken, wir machen es anderen nicht recht. Manchmal fühlen wir uns ohne Grund einsam. Oder wir denken, uns für etwas rechtfertigen zu müssen, das wir getan haben. Ein «Klassiker» in unserer leistungsorientierten Gesellschaft ist der Glaube, dass wir nur dann Liebe verdienen, wenn wir etwas geleistet haben.

In vielen Fällen reagieren wir also ganz und gar nicht wie Erwachsene. Das spüren wir deutlich, wir fühlen uns dann wie ein Kind. Das ist verständlich und normal, denn unsere Kindheit prägt unser Leben, unser Erleben und unser Verhalten. In allen von uns steckt das Kind, das bedingungslos geliebt, geborgen und anerkannt werden möchte. Wenn wir uns besser verstehen wollen, ist es also unumgänglich, dass wir unser Kind in uns verstehen lernen.

Genüge ich auch?

Hilfreich ist es, sich mit seinem inneren Kind zu befassen. Das innere Kind ist ein Begriff aus der Psychologie. Es symbolisiert die gespeicherten Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen aus der Kindheit. Es handelt sich um frühkindliche Prägungen unseres Gehirns, das heisst, um Programme, die sich durch die Interaktion des Kindes mit der Umwelt herausbilden. Das breite Spektrum intensiver Gefühle, positiver wie negativer, gehört dazu wie unbändige Freude, tiefer Schmerz, Traurigkeit, Neugierde oder auch Gefühle von Verlassenheit, Angst oder Wut.

Unsere ersten Lebensjahre beeinflussen uns stark, denn in dieser Zeit lernen wir, wie die Welt funktioniert, was im Leben zählt und wie wir uns zu verhalten haben. Vor allem lernen wir, ob oder wann wir liebenswert sind und wann nicht. Passiert in der Kindheit etwas, so denkt das Kind oftmals, es sei dafür verantwortlich. Unser Selbstwert und unser Lebensgefühl gründet sich auf diese Fragen: «Genüge ich oder nicht? Bin ich liebenswert oder nicht?» oder «Muss ich etwas Bestimmtes tun, damit man mich liebt?»

Der Ursprung von dem, was wir glauben zu sein, liegt in der Vergangenheit, jedoch können wir heute einen bewussteren Umgang damit finden. Es lohnt sich, sich mit dem inneren Kind auseinanderzusetzen, denn die scheinbaren Wahrheiten – seien es Glaubenssätze, Muster und feste Überzeugungen – wirken in uns. Wir können mit dem inneren Kind in Form des liebevollen Erwachsenen Kontakt aufnehmen, der dem Kind zeigt, wie die Welt heute wirklich ist. Leider verhalten wir uns aber eher wie der lieblose Erwachsene, und dann auch genauso, wie unsere Eltern oder andere uns geprägt haben.

Bekannt aus Transaktionsanalyse

Die Arbeit mit dem inneren Kind kann bis zu einem gewissen Grad allein oder mit Unterstützung einer therapeutischen Fachperson erfolgen. Das Konstrukt des «inneren Kindes» wurde erstmals durch die Transaktionsanalyse von Eric Berne populär. Bekannte Therapieformen, die mit dem inneren Kind arbeiten, sind die Schematherapie, die Psychodynamisch imaginative Traumatherapie, die katathym-imaginative Psychotherapie oder die Ego-State-Therapie und Hakomi-Methode. In den 90er-Jahren entwickelten die US-Psychotherapeutinnen Erika J. Chopich und Margaret Paul das Modell der inneren Bindung: Die betroffene Person lernt, sich wie ein liebevoller innerer Erwachsener um sein inneres Kind zu kümmern, das heisst, um jene Teile in uns, die in der Kindheit zu kurz kamen.

«Das Wichtigste, was wir uns selbst tun können, ist, uns bewusst zu machen, wie lieblos wir mit uns umgehen und was es bedeutet, ein liebevoller Erwachsener für unser inneres Kind zu werden», schreiben Erika J. Chopich und Margaret Paul in ihrem Standardwerk «Aussöhnung mit dem inneren Kind». Die Psychotherapeutinnen sind überzeugt, dass alle Probleme, sei es in einer Partnerschaft, in der Familie oder in der Gesellschaft, auf den fehlenden inneren Kontakt zurückzuführen sind. «Je mehr wir lernen, unser inneres Kind zu lieben, desto mehr werden wir uns selbst achten und lieben», so die Autorinnen. Selbstachtung käme von innen, sei ein Ergebnis davon, wie der innere Erwachsene über das innere Kind denkt und wie er es behandelt. Jedoch haben die meisten von uns nicht gelernt, fürsorglich und unterstützend in kritischen Situationen mit sich selbst umzugehen. Wir schützen uns vor Gefühlen von Unbehagen, Angst, Scham oder Schmerz, indem wir Mechanismen entwickelt haben, um nicht zu spüren. Die meisten Menschen haben ihr inneres Kind verdrängt, ignorieren es oder lehnen es ab.

Vergangenheit umschreiben

Ein Beispiel mag verdeutlichen, wie die Arbeit mit dem inneren Kind praktisch, und auch ohne den Gang zur therapeutischen Fachperson erfolgen kann. Angenommen, ein Mann hatte eine Mutter, die dem Kind aufgrund eigener Probleme wenig oder keine zuverlässige und bedingungslose Liebe geben konnte. Der kleine Junge erlebte seine Mutter als unzuverlässig und nicht so liebevoll wie er es gebraucht hätte. Als erwachsener Mann macht er die Erfahrung, dass er unsicher gegenüber Frauen ist und ständig Angst hat, seine Partnerin könnte ihn verlassen. Er kann sich nicht wirklich zeigen wie er ist, sondern ist überangepasst in seinem Verhalten. «Ich bin nicht liebenswert» ist seine Grundüberzeugung, die seine Partnerwahl und sein Verhalten bestimmen.

Er kann nun mit seinem inneren Kind in Kontakt treten oder anders ausgedrückt, mit den Gefühlen, die er als Junge hatte. Er kann den Kleinen buchstäblich an die Hand nehmen und ihn verstehen, ermutigen, lieben und beschützen. Er kann so machen, und lernen, dass er nichts Besonderes tun muss, um geliebt zu werden. «Ich kann Frauen vertrauen. Ich werde geliebt, so wie ich bin.» Das wären neue positive Glaubenssätze. So werden andere Deutungen für Ereignisse entwickelt und die Vergangenheit umgeschrieben. Denn wir haben als Erwachsene ganz andere Möglichkeiten und Fähigkeiten als wir als Kind hatten, und diese helfen uns, aus einem emotionalen Getriebensein oder der Stimme der Angst zu entkommen. Dieses Vorgehen erfordert eine Arbeit mit den Gedanken (Einstellungen), Gefühlen und dem Körper, der die Gedanken und Gefühle ausdrückt.

Dialog führen

Der innere liebevolle Erwachsene hat den Mut, uns mit uns selbst zu konfrontieren und uns selbst kennenzulernen. Indem dieser Erwachsene mit dem inneren Kind in Kontakt tritt, übernimmt er Verantwortung für die eigenen Gefühle. «Das innere Kind ist das wahre Seelenselbst, das sich oft über die Gefühle mitteilt», so Chopich und Paul. Sie schlagen einige Verhaltensweisen vor, die für den liebevollen Umgang mit dem inneren Kind sorgen:

  • Entscheide dich dafür, die Gefühle deines Kindes kennenzulernen und übernehme Verantwortung dafür, Angst und Schmerz zu heilen und Freude einzuladen.
  • Nimm dich selbst ernst. Höre dir zu, sei liebevoll.
  • Erforsche die negativen Gefühle. Entdecke die falschen Gedankenmuster und lerne die Wahrheit.
  • Akzeptiere, dass dein inneres Kind wichtige Gründe für seine Gefühle und Verhalten hat. Handle im Interesse des inneren Kindes.
  • Zeige dich als innerer Erwachsener dem inneren Kind zuverlässig, indem du täglich auf dein Kind hörst, so wie du auch einem «realen» Kind zuhörst.
  • Habe den Mut, die tiefsten Gefühle des Alleinseins und der Einsamkeit deines inneren Kindes wahrzunehmen. Bleibe mit deinem Mitgefühl und deiner Liebe präsent, während dein Kind diese Gefühle durchlebt.
  • Suche dir liebevolle Menschen, die dich unterstützen.

Um in Kontakt mit dem inneren Kind zu treten, kann es hilfreich sein, Kinderfotos anzusehen und sich in Situationen wieder hineinzuversetzen: «Wie war es damals genau? Wie habe ich mich gefühlt?» Vielleicht kann man versuchen, sich als Kind zu trösten oder sich zu freuen. Man kann dem Kind geben, was es braucht: Aufmerksamkeit, Liebe, Verständnis, Umarmung. Man kann auch einen fiktiven Briefwechsel führen. Möglich ist, zu versuchen, Gedanken und Probleme aus Sicht seines früheren Ichs, von sich als Kind, aufzuschreiben und diese Gedanken einfühlsam aus der heutigen, erwachsenen Perspektive zu beantworten.

Eine Möglichkeit, das innere Kind zu stärken, besteht auch darin, das zu tun, was man als Kind gern gemacht hat. In eine Pfütze springen, spielerisch oder einfach «kindisch» sein im wahrsten Sinne des Wortes, oder seiner Intuition folgen. Vielleicht mag man auch die Dinge tun, die man als Kind nicht durfte.

Die Arbeit mit dem inneren Kind erfordert viel Übung. Und es braucht Mut. Mut, sich einzugestehen, dass wir auch bemuttert werden wollen. Und das Wissen, dass wir uns das auch selbst schenken können. Behandeln wir das innere Kind liebevoll, füllen wir durch diese Verbindung die innere Leere. Steht ein Mensch in Verbindung mit seinem inneren Kind, erlebt er sich als liebevoll mit anderen, mit der Natur und allen Lebewesen verbunden. Dieses Gefühl der Verbindung ist eine grosse Quelle der Lebensfreude in uns selbst. Ist das innere Kind angenommen, verbessert sich die Beziehung sowohl zu uns selbst als auch zu anderen. Ein Leben in kraftvoller und bedingungsloser Liebe und Freude ist möglich.

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