Eine Droge wie keine andere

Ohne Alkohol wäre die Geschichte der Menschheit bestimmt eine andere. Er hat seit seiner Entdeckung die Gesellschaft mehr beeinflusst als jede andere bekannte psychoaktive Substanz. Alkohol ist ein soziales Schmiermittel, denn es stimmt die Menschen froh und macht sie zugänglich; andererseits kann er sie krank machen und Existenzen zerstören. Das Verhältnis der Menschen zur legalen Droge Nummer Eins ist deshalb seit jeher ein zwiespältiges.

Markus Kellenberger

 

Die Geschichte der Menschheit ist auch die Geschichte des Rausches. Ihm gehört ein so zentraler Platz in der Welt, dass über ihn Lieder gesungen, Gedichte verfasst, Bücher geschrieben und Feste ausgerichtet werden – denn wir Menschen lieben und verteufeln den Rausch gleichermassen. Er ist in allen Lebensbereichen nicht nur präsent, sondern wird oft sogar mit selbstzerstörerischer Kraft angestrebt, sei es der Liebesrausch, der Siegesrausch, der Rausch der Macht, der spirituelle Rausch, der Kaufrausch oder eben auch der Drogenrausch.

Der vor zwei Jahren verstorbene Ethnobotaniker Christian Rätsch hatte sich sein Leben lang dem Thema Rausch und Rauschdrogen gewidmet, und sein Wissen in der fast 1000-seitigen Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen zusammengefasst. Laut Rätsch stehen die meisten Naturdrogen seit Menschengedenken in Zusammenhang mit spirituellen und religiösen Ritualen, Erfahrungen und Gruppenerlebnissen. Auch Alkohol hat seiner Einschätzung nach ursprünglich spirituellen Zwecken gedient, hauptsächlich aber als anregendes Mittel für ausgelassenes «Gruppenerleben». Das Oktoberfest ist ein gutes Beispiel dafür. «Doch auch in vielen Religionen spielen fermentierte, also alkoholhaltige Getränke, noch immer eine zentrale Rolle», sagt er. In der Kirche ist das der Wein, der symbolisch das Blut von Jesus darstellt.

 

Ein verführerisches Nahrungsmittel

Keine Naturdroge hat sich über alle Kontinente dermassen ausgebreitet und sich im Alltag der Menschen etabliert wie Alkohol, und das, obschon viele andere schon lange vor ihr genutzt wurden und bis heute von vielen indigenen Völkern noch immer genutzt werden. Und auch das muss hier gesagt sein: der Genuss von Kokain, Heroin und vielen synthetischen Drogen zieht schlimmste Folgen nach sich, aber sie reichen nicht an das Elend heran, das Alkohol weltweit in Form von Alkoholabhängigkeit und Folgekrankheiten anzurichten vermag.

Das hat einen ganz bestimmten Grund. Vor rund 10 000 Jahren begannen die Menschen im Nahen Osten damit, Weizenkörner zu fermentieren oder gären zu lassen, um daraus haltbare Lebensmittel zu machen. Bei diesen Prozessen entsteht ein alkoholhaltiges Gebräu. Der Anthropologe Patrick McCovern betreibt an der Universität von Pennsylvania seit Jahren eine experimentelle Brauerei, in der sich nachvollziehen lässt, wie und was unsere Vorfahren gebraut haben. «Was diese Menschen aus vergorenem Getreide machten, war ein bierähnlicher Brei», erklärt McCovern. Diese Mischung zwischen einem Brei und einem Getränk war einfacher und mit weniger Aufwand herzustellen als Brot. «Ausserdem waren diese Produkte äusserst nahrhaft und durch den Fermentierungs- oder Gärungsprozess alkoholhaltig und haltbar geworden.» Solche bierähnlichen Produkte stillten also nicht nur den Hunger, sondern hoben auch noch die Stimmung an den Lager- und Küchenfeuern. Kein Wunder, hat Bier bis heute den – mittlerweile eher ironisch gemeinten – Ruf, kein Getränk, sondern ein Nahrungsmittel zu sein.


Himmelhoch jauchzend –
und dann abgestürzt

Weil der Mensch dem Rausche zugeneigt ist und nicht gerne Hunger leidet, wurden alkoholhaltige Nahrungsmittel und vor allem alkoholische Getränke rasch zu einem alltäglichen und allseits beliebten «sozialen Schmiermittel», wie es der Mediziner und Alkoholforscher Helmut Seitz nennt. Das ist bis heute so und die kommenden Festtage sind der beste Beweis dafür. Kaum ein Weihnachtsessen, eine Silvesterparty oder ein Neujahresapéro kommt ohne Alkohol aus, und das aus gutem Grund: ein, zwei Gläser heben die Stimmung und machen Schüchterne gesprächig, man geht aufeinander zu und lacht über die dümmsten Witze, aber schon drei, vier Gläser später sagt oder tut man eventuell Dinge, die man am nächsten Tag bereut. Alkohol kann uns zu viel Spass verhelfen – und er kann uns ins tiefste Elend stürzen. Ein Blick zurück zeigt, dass das schon immer so war.

 

 

Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren Bier und Wein die bevorzugten Getränke der einfachen und oft bitter armen Bevölkerung in ganz Europa, und das aus drei Gründen: Sie waren gesünder als das meistens mit Abfällen und Fäkalien verschmutzte Wasser aus Brunnen und Bächen, zudem immer noch ein billiger Ersatz für die häufig knappen Lebensmittel – und man konnte sich herrlich damit berauschen und so dem tristen und von Krankheiten geprägten Alltag entfliehen. Historiker gehen davon aus, dass die Menschen damals, und das betrifft Gross und Klein, fast täglich Alkohol im Blut hatten. Weil Getränke mit einem höheren Alkoholgehalt als Bier und Wein aber sehr teuer und somit den Reichen vorbehalten waren, hielten sich die Folgen des täglichen Alkoholkonsums einigermassen in Grenzen.


Wie die Branntweinpest ins Land kam

Das galt auch für das Gebiet der damaligen Schweiz,. Auch hier wurden täglich Bier und Wein konsumiert. Doch das änderte sich mit dem Einmarsch der Franzosen im Jahr 1798. Sie beendeten das feudale Ancien Régime, klauten den Berner Staatsschatz und hinterliessen im Gegenzug nicht nur die Grundlagen für eine moderne Demokratie, sondern auch eine neue Methode der Schnapsbrennerei. Zusammen mit dem sich ausbreitenden Kartoffelanbau war Hochprozentiges plötzlich billig herstellbar, und so wurde «Härdöpfeler» innert kürzester Zeit zur Massenware und die damals grösstenteils arme Bevölkerung versank wortwörtlich im Suff.

Einer der sich gegen die sich erbarmungslos ausbreitende «Branntweinpest» stemmte, war der Pfarrer Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf. Er konnte nicht tatenlos mitansehen, wie Männer, Frauen und – das war damals üblich - auch Kinder dem harten Schnaps zum Opfer fielen, massenweise noch weiter in die Armut abrutschten und an den Folgen ihres Alkoholkonsums verblödeten, erblindeten oder starben. In vielen seiner Erzählungen wie zum Beispiel in der 1838 erschienenen Geschichte «Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen» thematisierte er die lebenzerstörenden Auswirkungen des geradezu entfesselten Alkoholkonsums seiner Zeit.


Eine Trinkpause in Ehren …

Diese Branntweinpest breitete sich im 19. Jahrhundert in ganz Europa aus und löste ein derart grosses soziales und gesundheitliches Elend aus, dass sich in fast allen Ländern Abstinenzbewegungen bildeten. Diese setzten die Regierungen, die sich bisher wenig um die Ärmsten gekümmert hatten, unter Druck, dieser menschlichen Katastrophe per Gesetz Einhalt zu gebieten. Das geschah auch in der Schweiz. 1887 erliess der Bundesrat das erste von vielen nachfolgenden Alkoholgesetzen, aber es dauerte noch Jahrzehnte, um den Volksalkoholismus mit vielen zusätzlichen Gesetzen und sozialen und medizinischen Auffangvorrichtungen in vertretbare Bahnen zu lenken.

«Auch heute noch ist niemand davor sicher, in den Alkoholmissbrauch zu geraten», sagt Helmut Seitz, der als weltweit anerkannter Spezialist in der Klinik Ethianum in Heidelberg Patientinnen und Patienten behandelt, deren Organe durch den Genuss von Alkohol geschädigt sind. Trotz der vielen gesundheitlichen Probleme, die Alkohol bei regelmässigem Trinken selbst in kleinen Dosen auslösen kann, ist Abstinenz jedoch für die meisten Menschen kein Thema. Die Lust am Genuss und am Rausch, und sei er noch so klein, überwiegt. Aber: alle können sich und ihrem Organismus auf ganz einfache Weise etwas Gutes tun. Allen, die das Gefühl beschleicht, über die Festtage mit dem Trinken vielleicht etwas über die Stränge geschlagen zu haben, rät Seitz dies: «Machen Sie einen alkoholfreien Januar.» Ein paar Wochen ohne die Rauschdroge Nummer Eins tun dem Körper und insbesondere der Leber richtig gut.

Die Dosis macht das Gift

Rund 85 Prozent aller Menschen in der Schweiz trinken regelmässig Alkohol, und das ab dem 15. Lebensjahr. Doch so weit verbreitet und toleriert der Genuss von Alkohol auch ist, letztlich handelt es sich dabei um eine psychoaktive Substanz, die viele Schäden verursachen kann. Fatal daran ist, dass diese sich ähnlich wie die Folgeschäden des Rauchens erst nach vielen Jahren zeigen. Die toxische Wirkung des Alkohols kann fast jedes Organ des Körpers beeinträchtigen.

Ein moderater Alkoholkonsum, Fachleute reden hier von einem Glas Wein pro Tag, kann sich positiv auf das Kreislaufsystem auswirken und das Risiko von Herzinfarkten oder Schlaganfällen senken – aber nur, wenn es auch wirklich dabei bleibt und keine weiteren Krankheiten vorliegen, die durch den Alkoholkonsum verstärkt werden können. Aber alles, was darüber hinaus geht, hat früher oder später gesundheitliche Folgen. Die Stiftung «Sucht Schweiz» führt verschiedene Studien an, die belegen, dass mit steigendem Alkoholkonsum die Risiken deutlich steigen, an verschiedenen Krebsarten im Bereich Speiseröhre, Bauchspeicheldrüse, Leber, und Brust zu erkranken (siehe auch «natürlich» 11/24) . Zudem wird das Immunsystem nachhaltig geschwächt, das Nervensystem in seiner Funktion beeinträchtigt und es kann schleichend zu einer schweren Abhängigkeit kommen. In der Schweiz betrifft das rund eine Viertelmillion Menschen.

Insgesamt ist Alkoholkonsum der nach Tabakkonsum und Bluthochdruck drittgrösste Risikofaktor für frühzeitige Erkrankungen und Todesfälle. In der Altersgruppe der 15- bis 74-Jährigen ist bei Männern jeder 10. und bei Frauen jeder 17. krankheitsbedingte Todesfall letztlich auf Alkohol zurückzuführen. Bei 9 Prozent aller Verkehrsunfälle ist Alkohol im Spiel, bei Todesfällen im Strassenverkehr sind es 17 Prozent, jährlich gibt es rund 12 000 Verurteilungen wegen «Fahren in angetrunkenem Zustand» und ebenfalls jährlich werden bis zu 1000 Jugendliche im Alter zwischen 10 und 23 Jahren mit einer Alkoholvergiftung hospitalisiert. Die sozialen Kosten des Alkoholkonsums summieren sich in der Schweiz jedes Jahr auf rund 6,5 Millarden Franken. 

 

Wie viel Alkohol ist ok?

In der Alkoholforschung wird zwischen risikoarmem, problematischem und abhängigem Alkoholkonsum unterschieden. Dabei wird von einem sogenannten «Standardglas» ausgegangen. Ein Standardglas Alkohol enthält rund 10 Gramm reinen Alkohol. Das entspricht etwa einer Stange Bier, einem Glas Wein oder einem Gläschen Schnaps.

Ein Standardglas Alkohol täglich gilt als risikoarm. Das heisst aber nicht, dass das gesund ist, sondern dass der regelmässige Konsum dieser Menge Alkohol bei den allermeisten Menschen kaum gesundheitliche Probleme verursacht – sofern keine Vorerkrankungen vorhanden sind oder äussere Faktoren wie Drogen- und Medikamentenmissbrauch dazukommen.

Beim problematischen Alkoholkonsum mit gesundheitlichen Langzeitfolgen unterscheidet die Suchtforschung drei Trinkmuster:

Chronisch risikoreicher Alkoholkonsum: Für Frauen beginnt das bei zwei Standardgläsern Alkohol pro Tag, bei Männern aufgrund ihres Körperbaus bei vier, wobei gesundheitliche Risiken schon bei kleineren Mengen entstehen können.

Episodisch risikoreicher Konsum:  Darunter fällt beispielsweise das sogenannte Wochenend- oder Gelegenheitstrinken. Ab fünf Standardgläsern zählt man für die Forschenden zu diesem Trinkmuster, bei dem man sich neben den gesundheitlichen Risiken auch der erhöhten Gefahr von Unfällen aussetzt.

Der Situation unangepasster Alkoholkonsum: Personen, die auch in kleinen Mengen trinken, obschon sie schwanger sind, im Strassenverkehr unterwegs oder am Arbeitsplatz sind oder Medika-mente und Drogen einnehmen, setzen sich einem erhöhten gesundheitlichen Risiko aus.

Der Übergang von einem problematischen zu einem abhängigen Alkoholkonsum ist übrigens fliessend. Eine Abhängigkeit wird nicht über die Menge des konsumierten Alkohols definiert, sondern ist eine Krankheit, bei der die folgenden von der Weltgesundheitsorganisation WHO festgelegten Kriterien erfüllt sein müssen:

  • Ein starkes Verlangen nach Alkohol
  • Schwierigkeiten, den Konsum einzuschränken und zu kontrollieren
  • Fortlaufender Alkoholkonsum trotz gesundheitlicher Probleme
  • Trinken wird wichtiger als anderen Aktivitäten und Verpflichtungen nachzugehen
  • Eine schleichende Erhöhung des Alkoholkonsum
  • Körperliche Entzugssymptome

Eine Alkoholabhängigkeit wird dann diagnostiziert, wenn während eines Jahres drei oder mehr dieser Kriterien gleichzeitig zutreffen.

www.suchtschweiz.ch

 

So wirkt Alkohol

Alkohol ist eine psychoaktive Substanz. Da Alkohol schnell ins Blut übertritt, sind seine Wirkungen rasch spürbar. In geringen Dosen machen sich diese als Fröhlichkeit, Rededrang, Wärmegefühl, Wohlbefinden und Entspannung bemerkbar. Je höher die eingenommene Dosis aber ist, desto mehr stellen sich auch unangenehme Wirkungen ein – bis hin zur Todesfolge durch eine massive Alkoholvergiftung. Hier eine Übersicht über die Wirkungen gemessen am Blutalkoholgehalt:

0,2 bis 0,5 Promille

  • leichte Verminderung von Seh- und Hörvermögen
  • Aufmerksamkeit, Konzentration und Reaktionsvermögen lassen nach
  • Kritik- und Urteilsfähigkeit sinken, parallel dazu steigt die Risikobereitschaft

0,5 bis 0,8 Promille

  • die Nachtsicht lässt nach
  • das Gleichgewichtsgefühl ist gestört
  • die Konzentrationsfähigkeit lässt weiter nach und die Reaktionszeit verlängert sich deutlich
  • Enthemmung und Selbstüberschätzung (Risikobereitschaft) nehmen zu

0,8 bis 1 Promille

  • Sehfähigkeit, Wahrnehmung, räumliches Sehen sind beeinträchtigt und das Blickfeld verengt sich
  • das Gleichgewichtsgefühl ist erheblich gestört
  • die Konzentrationsfähigkeit lässt noch mehr nach, die Reaktionszeit ist stark verlängert
  • Enthemmung und Selbstüberschätzung nehmen bis hin zur Euphorie zu

1 bis 2 Promille (Rauschstadium)

  • weitere Verschlechterung des Hör- und Sehvermögens und der Hell-/Dunkel-Anpassung
  • starke Gleichgewichtsstörungen und erhebliche Aufmerksamkeits- und Reaktionseinbusse
  • es kommt zu Verwirrtheit, zu Sprech- und Orientierungsstörungen
  • komplette Selbstüberschätzung und Enthemmung mit völligem Verlust der Kritikfähigkeit

2 bis 3 Promille (Betäubungsstadium)

  • ausgeprägte Gleichgewichts- und Konzentrationsstörungen, Reaktionsvermögen kaum mehr vorhanden
  • Muskelerschlaffung
  • Gedächtnis- und Bewusstseinsstörungen, Verwirrtheit
  • Erbrechen

3 bis 5 Promille (Lähmungsstadium)

  • ab 3 Promille Bewusstlosigkeit, Gedächtnisverlust, schwache Atmung, Unterkühlung, Verlust der Reflexe
  • ab 4 Promille Lähmung, Koma, unkontrollierte Ausscheidungen, drohender Atemstillstand

 

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