Ein strenger Lehrer fürs ganze Leben

Es gibt Schmerzen, die niemand erleiden will, und es gibt Schmerzen, die der Mensch bewusst sucht. Insofern ist Schmerz ein Paradox, ein Widerspruch in sich, denn was immer wir auch tun: es gibt kein Leben ohne Schmerz, denn er ist unser Feind und zugleich auch unser Freund. Schmerz sitzt uns in den Knochen, zerreisst uns das Herz, bereitet uns Lust oder lässt uns spirituell wachsen.

Markus Kellenberger

Nach der fünften schweren Rückenoperationen im letzten Frühjahr gab Ernst Egger auf. Sechzehn Jahre lang dauerte sein Martyrium, das 2008 mit einer ersten Operation begann. «Aber jetzt ist Schluss, aus, ich habe genug», sagt er mir bei unserer Begegnung. «Nie wieder werde ich mich unters Messer legen – und auf die Nebenwirkungen all dieser Schmerzmittel und Antidepressiva, die ich in dieser Zeit geschluckt habe, verzichte ich mittlerweile auch.» Der seit kurzem pensionierte selbständige Metzger aus Heimenhausen im Kanton Bern gehört zu den rund 700 000 Menschen in der Schweiz, die unheilbar an chronischen Rückenschmerzen leiden – egal, was die Medizin ihnen anzubieten hat. Gemäss den Statistiken des Bundesamtes für Gesundheit BAG leiden 1,5 Millionen Menschen, das sind 16 Prozent der Gesamtbevölkerung, an unterschiedlichen Formen von körperlichem, chronischem Schmerz. Rückenleiden machen den grössten Teil davon aus, gefolgt von unterschiedlichen rheumatischen Erkrankungen und durch Diabetes verursachte Nervenschäden, die ebenfalls zu permanenten Schmerzen führen. Die moderne Schmerzmedizin kann vieles, aber nicht alles. Bei einem Beinbruch, einem Schnitt in den Finger, bei morgendlichen Kopfschmerzen oder einem löchrigen Zahn hat sie viele Möglichkeiten, das Leiden rasch zu lindern, aber bei chronischen Schmerzen ist sie oft so gut wie hilflos. Und so unbarmherzig das auch tönen mag: eine schmerzfreie Welt wird es trotz aller Forschung nie geben, denn Schmerz gehört zum Leben.

Alarmsignal auf allen Kanälen

Ohne unsere Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, wären wir verloren. Er ist in der Regel ein Warnsignal, das uns vor weiterem Schaden oder Krankheiten bewahren will und uns zwingt, hinzuschauen, unser Handeln zu überdenken und wo nötig auch Hilfe anzunehmen. Das gilt nicht nur für den körperlichen Schmerz, sondern auch für den seelischen, der uns als Trauer, Liebeskummer, Angst oder Einsamkeit begegnen kann. Im Gegensatz zum körperlichen Schmerz fehlt dem Seelenschmerz oft die klare Botschaft.

Er nagt still und lässt sich lange verdrängen. Rund ein Drittel der Bevölkerung leidet laut den letzten Statistiken aus dem BAG an psychischen Problemen, wobei leichte bis schwere Depressionen und Angststörungen die häufigsten Symptome darstellen. Immer öfters trifft es dabei junge Menschen.

Auch Seelenschmerzen sind ein deutliches Signal. Sie sagen, dass es dringend an der Zeit ist, uns um uns selbst zu kümmern, uns zu fragen, wo im Leben wir stehen und welche Veränderungen angegangen werden müssten. Wie der Phönix aus der Asche können wir aus seelischem Schmerz neu geboren werden. Ein klassisches Beispiel dafür ist Goethes «Die Leiden des jungen Werther». In dieser Geschichte spiegelt Werthers Herzschmerz die urmenschliche Erfahrung wider, dass es eben gerade dieser Seelenschmerz ist, der uns zu neuen und befreienden Erkenntnissen führen kann – sofern wir uns dieser Aufgabe stellen.

Ein Tor zur Erleuchtung

In vielen Religionen und spirituellen Strömungen ist Schmerz deshalb ein wichtiger Katalysator, ein Mittel zum Zweck, das es Menschen erlaubt, in höhere Sphären des Glaubens und des Bewusstseins zu gelangen, weil er uns an unsere Grenzen bringt und Demut lehrt. In vielen spirituellen Traditionen wird Schmerz deshalb auch als unabdingbarer Reinigungsprozess verstanden, ohne den die Seele nie frei werden und in den Himmel oder ins Nirwana übergehen kann. Der am Kreuz leidende Christus oder der über die Schmerzgrenze hinaus meditierende Buddha sind eindrückliche Beispiele dafür. Aber auch die Philosophie befasst sich seit ihren Anfängen immer wieder mit dem Thema Schmerz. Zum Beispiel in der philosophischen Denkrichtung des Existenzialismus, die betont, dass der Mensch seine eigene Bedeutung und Verantwortung in einer oft sinnlosen oder chaotischen Welt selbst erschaffen muss – und der Weg dorthin führe unter anderem durch den Schmerz der Erkenntnis. Dieser Meinung jedenfalls waren die beiden französischen Philosophen Jean-Paul Sartre und Albert Camus, die, erschüttert von erlebten Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, den Existenzialismus massgeblich geprägt haben.

So ist es nicht verwunderlich, dass Schmerz in vielen Kulturen ein Schlüssel zu Verwandlung und Reife ist. Ob es die Schmerzensrituale der Cheyenne sind oder die Qualen einer Geburt – Schmerzen markieren oft den Übergang von einem Lebensabschnitt zum nächsten. Er ist ein Lehrer, der den Menschen zeigt, dass Wachstum einen Preis hat – und dass es häufig erst der körperlich oder seelisch durchlebte Schmerz ist, der uns zu dem macht, was wir sind. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist auch das Initiationsritual der Massai, bei dem bis heute junge Männer eine Beschneidungszeremonie bestehen müssen. Der Schmerz, den sie dabei erleiden, ist der Preis dafür, den sie zahlen, um erwachsene und vollwertige Mitglieder ihres Stammes zu werden.

Wo Schmerz und Lust sich treffen

In unserem Kulturkreis sind wir von solchen blutigen Ritualen weitgehend weggekommen. An deren Stelle sind andere Übergangs- und Wachstumsrituale getreten, darunter sportliche Wettkämpfe wie Marathonläufe, die ohne die Überwindung der eigenen Schmerzgrenze kaum zu bewältigen sind. Das bringt uns direkt zu einem weiteren Aspekt des Schmerzes – er kann Lust bereiten. Lust und Schmerz werden im Hirn über dieselben Nervenverbindungen empfunden und können deshalb zu einem einzigen Gefühl verschmelzen. Körperlich kann das bei sportlichen Aktivitäten und auch beim Sex passieren, und uns in tranceartige Zustände führen. Auf der seelischen Ebene kann es Musik sein, die intensiv auf unsere Emotionen einwirkt und gleichzeitig Trauer und Freude auslösen kann.

Doch was helfen all diese Erkenntnisse über die Vielfältigkeit und den Wert des Schmerzes Menschen, die ohne Chance auf wirkliche Heilung täglich an ihm leiden und von ihm in ihrem Sein eingeschränkt werden? Gibt es einen Weg, um in Frieden mit seinem Schmerz leben zu können? Siegfried Lenz, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, schrieb dazu in seinem Essay «Über den Schmerz» folgendes: «Der Schmerz eröffnet uns nicht nur unsere Ohnmacht und Verletzlichkeit, sondern lässt uns auch eine tröstliche Möglichkeit der Existenz erkennen – die Möglichkeit einer Bruderschaft im Schmerz.»

Eine Bruderschaft im Schmerz? Diesen alles andere als einfachen Weg hat Ernst Egger, der frisch pensionierte Metzger vom Anfang unserer Geschichte, am Ende seiner erfolglosen Odyssee durch die Instanzen der modernen Medizin gewählt. Er hat sich mit seinen chronischen Rückenschmerzen so weit wie möglich arrangiert. «Ärzte, Operationen und Medikamente haben mir meine Schmerzen trotz aller gut gemeinter Versuche nicht nehmen können», sagt er. «Deshalb habe mich entschieden, mich an dem zu freuen, was ich kann – und nicht länger dem nachzutrauern, was ich wegen meinem Rücken alles nicht mehr kann.»

 

Eine kurze Geschichte der Schmerzmedizin

Seit der Steinzeit sucht der Mensch Mittel, um Schmerzen zu lindern – bis heute ist diese Suche in Gang. Die Verbindung von überlieferter Tradition und moderner Forschung prägt die aktuelle Schmerzmedizin. Natürliche Heilmittel, ergänzt durch neuste Technologien, schaffen einen ganzheitlichen Ansatz zur Schmerzlinderung.

Frühgeschichte: Heilpflanzen wie Weidenrinde, die Salicylsäure enthält und später als Aspirin bekannt wurde, nutzten bereits die Menschen der Steinzeit. Schamanen und Heiler kombinierten Kräuter mit Ritualen und spirituellen Praktiken, um Schmerzen sowohl über den Körper als auch über den Geist zu lindern. Ein Konzept, das bis heute in indigenen Kulturen und in der alternativen Heilkunde oft erfolgreich angewendet wird.

Antike: Hochkulturen wie Ägypten, Mesopotamien, Indien und China nutzten pflanzliche Arzneien wie zum Beispiel Opium aus Schlafmohn. Der griechische Arzt Hippokrates beschrieb vor rund 2500 Jahren die schmerzlindernde Wirkung von Weidenrinde, und die Traditionelle Chinesische Medizin TCM entwickelte Akupunktur als Methode zur Schmerzbehandlung.

Mittelalter: Arabische Gelehrte wie der aus Persien stammende Arzt Avicenna verfassten im 10. Jahrhundert bedeutende Werke zur Schmerztherapie und Medizin. Diese wiederum beeinflussten die in Europa die aufkommende Klostermedizin. Heilpflanzen wie Baldrian, Lavendel und Johanniskraut wurden gezielt gegen Schmerzen eingesetzt, und Kräuterkundige wie die im 12. Jahrhundert tätige Klostervorsteherin Hildegard von Bingen hinterliessen ein reiches Erbe an Kräuterwissen, das die Schmerzmedizin und Kräuterheilkunde bis heute beeinflusst. 

Frühe Neuzeit: Im 16. Jahrhundert verbreitete sich Paracelsus' Ansatz, natürliche Substanzen gezielt einzusetzen. Der Basler Arzt löste damit einen wichtigen Schritt in Richtung moderner Medizin aus, und die angelaufene Renaissance befreite die Forschung endgültig von religiösen Vorstellungen und Verboten. Das führte zu Fortschritten in Chemie und Botanik. So konnten Wissenschaftler mit neuen Methoden erstmals Wirkstoffe aus Pflanzen isolieren, so zum Beispiel das schmerzstillende Morphin aus Opium.

19. Jahrhundert: Die moderne Anästhesie wurde begründet. Äther als Betäubungsmittel wurde erstmals 1842 vom US-amerikanischen Arzt Crawford W. Long verwendet, während Chloroform 1847 vom schottischen Arzt James Young Simpson als Anästhetikum eingeführt wurde. Äther und Chloroform ermöglichten erstmals in der Geschichte der Medizin schmerzfreie Operationen. Einen entscheidenden Schritt für die Selbstbehandlung von Schmerzen gelang dem deutschen Chemiker Felix Hoffmann. Er synthetisierte 1897 den in der Weidenrinde enthaltenen und schmerzlindernden Wirkstoff Salicin und entwickelte daraus das bis heute bekannte Aspirin.

20. Jahrhundert: Neue Medikamente wie hochwirksame Lokalanästhetika und synthetische Opioide, darunter Methadon, erweiterten die Schmerztherapie. Multidisziplinäre Ansätze entwickelten sich, darunter Physiotherapie, Psychotherapie und auch die Neuromodulation. Das ist ein medizinisches Verfahren, bei dem elektrische oder chemische Reize gezielt im Rückenmark und auch im Hirn gesetzt werden, um das Nervensystems auf direktem Weg zu beeinflussen. Es wird hauptsächlich zur Behandlung von chronischen Schmerzen und neurologischen Störungen wie Epilepsie und Parkinson eingesetzt.

Unser Jahrhundert: Die aktuelle Schmerzmedizin kombiniert moderne Pharmakologie mit alternativen Ansätzen wie Akupunktur, Yoga und Achtsamkeitsmeditationen. Chronische Schmerzen werden seit 2001 als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt, und individualisierte und geschlechtsspezifische Therapien stehen immer mehr im Fokus.

 

Körperlicher Schmerz kennt viele Formen

«Können Sie mir sagen, wie sich die Schmerzen anfühlen?» Das ist eine klassische Sprechstunden-Frage, deren Antwort vielen von uns schwer fällt. Es scheint fast unmöglich, das Schmerzgefühl in Worte zu fassen, denn es gibt viele Arten von Schmerz. Aber genau das ist wichtig, denn wenn Schmerz nicht richtig behandelt wird, wirkt sich das negativ auf unser körperliches und seelisches Wohlbefinden aus. Das sind die wichtigsten Schmerzarten:

Akute Schmerzen: Akute Schmerzen treten plötzlich auf und können auf eine Krankheit, Verletzung oder Operation zurückzuführen sein. Der Schmerz kann sich stechend und sehr intensiv anfühlen. Er lässt aber nach, sobald die Ursache beseitigt oder das Gewebe verheilt ist.

Auslöser für akute Schmerzen sind: Verstauchungen, Blutergüsse, Überanstrengungen beim Sport, Verbrennungen, Knochenbrüche, Schnitte und auch Operationen.

Chronische Schmerzen: Chronische Schmerzen zehren extrem an den Kräften, da sie so hartnäckig sind und über Monate oder sogar Jahre anhalten können. Die Intensität der Schmerzen kann sich ständig verändern; an einigen Tagen sind sie erträglich, an anderen sehr stark. In manchen Fällen lässt sich keine Ursache feststellen, in anderen sind die Schmerzen auf eine frühere, längst verheilte Verletzung zurückzuführen.

Beispiele für chronische Schmerzen sind: häufige Kopfschmerzen, Arthrose, Rückenschmerzen. 

Entzündliche Schmerzen: Bei einer Entzündung treten die Schmerzen oft spezifisch im betroffenen Bereich auf und werden meistens als «dumpfe» Schmerzen beschrieben, die manchmal von Rötung, Schwellung und Erwärmung des betroffenen Bereichs begleitet werden. Entzündungsschmerzen treten häufig in Gelenken und im Rücken auf.

Neuropathische Schmerzen: Sie beruhen im Grunde auf einem Fehler im Nervensystem, zum Beispiel, wenn Nerven beschädigt wurden oder aus einem anderen Grund nicht mehr wie gewohnt funktionieren. Die Folge sind kribbelnde, schiessende oder stechende Schmerzen, für die es keine offensichtliche Ursache gibt.

Physiologischer Nozizeptorenschmerz: Das sind Schmerzen, die durch eine Schädigung des Körpers verursacht werden und eine Schutzfunktion haben. Gute Beispiele dafür sind Schmerzen in überlasteten Gelenken, im unteren Rückenbereich oder Schmerzen nach Sportverletzungen und nach Operationen.

Führen Sie ein Schmerztagebuch

Zurück zur ursprünglichen Frage in der ärztlichen Sprechstunde: «Können Sie mir sagen, wie sich die Schmerzen anfühlen?» Vielen Menschen, die unter Schmerzen leiden, hilft ein Schmerztagebuch. Darin zeichnen Betroffene täglich auf:

  • ob und welche Schmerzen sie an diesem Tag hatten;
  • wie lange die Schmerzen anhielten; • ob die Schmerzen im Laufe des Tages zu- und abnahmen oder konstant blieben;
  • ob es einen – vermuteten – Auslöser für die Schmerzen gibt, wie zum Beispiel körperliche Aktivitäten, Schlafqualität, Nahrungsmittel oder Stress;
  • wie stark die Schmerzen auf einer Skala von 1 (leicht) bis 10 (unerträglich) sind. Jeder Mensch hat ein individuelles Schmerzempfinden, deshalb ist es wichtig, die Intensität der Schmerzen für sich selbst einzuschätzen.

Je besser Menschen ihre Schmerzen in einer Sprechstunde beschreiben können, desto genauer kann eine Behandlung durchgeführt werden. Ein ganzheitlicher Ansatz hilft dabei, über den Schmerz hinaus zu denken – und die Freude am Leben wieder zurück zu gewinnen.

 

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