Das nützliche Monsterchen
Blutegel (Hirudinea) können mehr als nur Blut saugen. Mit ihrem Sekret heilen die Wundertierchen in Rekordzeit Entzündungen bei Menschen – eine Wohltat etwa für das geschwollene Arthrose-Knie.
Christine Künzler
Zuerst fühlt es sich leicht unangenehm an, manchmal brennt es etwas, doch mit der Zeit spürt man sie nicht mehr, die kleinen Blutegel, wenn sie sich am Blut ihres Wirtes gütlich tun. Zuvor hat der Arzt oder die Therapeutin die Blutsauger mit einem speziellen Glas sorgfältig auf die zu behandelnde Stelle gesetzt. Zu ihrem Glück zwingen lassen sich die kleinen Egel nicht, sie entscheiden selbst, ob sie anbeissen oder nicht. Manchmal braucht es etwas Geduld, aber irgendwann funktioniert es. «Je stärker die Entzündung, desto lieber beissen die Egel an», sagt Experte Andreas Eggimann von der Naturmedizin-Praxis Eggimann in Grenchen. Erst wenn die Tierchen vollgesogen sind und sich fallen lassen, ist die Therapie beendet. Das kann 60 bis 120 Minuten dauern. Manuell entfernen darf man die Blutsauger nicht, denn sie könnten erbrechen und damit eine Infektion beim Patienten auslösen. Die Behandlung mit Blutegeln gehört zu den ältesten und traditionsreichsten Heilverfahren. Bereits in der Zeit der Pharaonen sollen Menschen die medizinische Wirkung dieser Tierchen genutzt haben. Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte diese Therapieform ihren Höhepunkt. Seit ein paar Jahren setzen Ärztinnen und Therapeuten nun wieder vermehrt auf diese nebenwirkungsarme Heilmethode. Eine unangenehme, jedoch gewollte Nebenwirkung ist die mehr oder weniger starke Nachblutung – eine Folge der blutverdünnenden Substanz Hirudin, welche die Egel beim Saugen abgeben. Zudem können auf der Haut kleine Narben zurückbleiben.
Studien bestätigen Heilwirkung
Die Heilkraft liegt im Speichel: Er enthält mehr als 100 bioaktive Substanzen, unter anderem eben das blutverdünnende Hirudin. Beim Saugen geben die Blutegel ihre Substanzen mit dem Speichel in die klitzekleine Wunde, die ihr «Biss» verursacht. Das Sekret wirkt entzündungshemmend, schmerzstillend und durchblutungsfördernd. Laut einer Publikation der Universität RWTH Aachen hat sich die Wirkung der Blutegeltherapie bei Kniearthrosen zum ersten Mal in einer placebo-kontrollierten klinischen Studie nachweisen lassen. Das Resultat: beachtliche Erfolge bei geringen Risiken und Nebenwirkungen. Besonders die Schmerzsituation verbesserte sich, Patienten erlangten ihre Beweglichkeit zurück. Beim Sport- und Freizeitverhalten sei allerdings nur eine geringe Verbesserung zu erwarten.
Gut abgeschnitten hat die Egeltherapie auch in einer randomisierten kontrollierten Studie der Medizinischen Fakultät der Uni Duisburg-Essen. Untersucht hat man dort die Wirksamkeit der Blutegelbehandlung beim «Tennisellbogen». Eine Gruppe wurde mit Blutegeln, die andere mit dem Schmerzmittel Diclofenac (Gel) behandelt. Keine Person wusste, mit welcher Methode sie therapiert wird. 45 Tage später zeigte sich bei beiden Gruppen eine deutliche und vergleichbare Reduktion der Schmerzen, die Patienten der Blutegeltherapie freuten sich zusätzlich noch über eine starke Verbesserung der funktionellen Beschwerden.
In spezialisierten Laboren werden die Tiere gezüchtet.
Es braucht erfahrene Therapeuten
Andreas Eggimann wendet die Blutegeltherapie schon seit zehn Jahren an. «Mit sehr guten Erfolgen bei Entzündungen, akuten und chronischen Leiden», wie er sagt. Vorteile dieser Therapie sind für ihn, dass sie oft schnell wirkt und scheinbar unlösbare gesundheitliche Probleme beheben kann. Allerdings eignet sich die Blutegelanwendung nicht für alle Menschen: Bei bestimmten Medikationen und Zirkulationsstörungen dürfen die Tierchen nicht angesetzt werden. Der Grund: Es könnten, sagt Andreas Eggimann, nach einer solchen Therapie schon mal Komplikationen auftreten, «allerdings sehr selten, bei uns ist das in den letzten fünf Jahren nie vorgekommen». Wichtig sei natürlich, dass Blutegelanwendungen von erfahrenen Therapeuten durchgeführt würden.
Die medizinischen Blutegel dürfen nur einmal verwendet werden, danach kommen die vollgesogenen und schlafenden Tierchen in den Tiefkühler, werden so sanft getötet und fachgerecht entsorgt. In der Natur aussetzen darf man sie nicht. Das gilt auch umgekehrt: Die freilebenden Blutsauger sind in der Schweiz rar und deshalb geschützt, sie dürfen nicht mitgenommen werden.
Auch in der Schweiz wird gezüchtet
Für die medizinische Anwendung werden die Blutegel (Hirudo medicinalis) weltweit ausschliesslich in spezialisierten Laboren gezüchtet. Dort können sie, bei guter Haltung, bis zu 20 Jahre alt werden. Die bisher einzige Schweizer Zucht ist die Hirumed GmbH in Wil SG. Das Familienunternehmen von Dominique Kähler Schweizer und Beda Schweizer ist spezialisiert auf die Zucht von Blutegeln für therapeutische Zwecke. Vor über 20 Jahren begann die Ärztin damit, ihre Blutegel selbst zu züchten, weil ihr die Qualität der angebotenen Egel nicht gefiel. «Zuerst lief die Zucht parallel zu meiner Arztpraxis, seit 2007 ist sie eine eigene Firma», so Dominique Kähler Schweizer. «Für eine Zucht braucht es neben dem nötigen Kapital viel Geduld, Durchhaltevermögen, ein grosses Fachwissen sowie Begeisterung für Tiere und Therapie», sagt sie rückblickend. «Wer Blutegel züchtet, darf keinen Profit anstreben. Eine Lachszucht etwa wäre wesentlich lukrativer und rentabler.»
Dass sich die Ärztin trotzdem für Blutegel entschieden hat, liegt an der Heilwirkung und ihrer Freude am Therapieerfolg. Sie züchtet hauptsächlich den grünen Blutegel (Hirudo verbana) und den medizinischen Blutegel (Hirudo medicinalis). «Nach rund zwei Jahren sind sie einsatzfähig für therapeutische Zwecke», so Dominique Kähler Schweizer. Dann machen sich die Blutsauger per Kurier auf den Weg zu Ärztinnen und Therapeuten – oder sie werden direkt in Wil abgeholt.
Seit mehr als 25 Jahren setzt sich die Ärztin mit Naturheilkunde auseinander. In ihrer Praxis in Wil bietet sie seit 1998 Blutegeltherapien an – auch Kurse, Seminare und eine vollumfängliche Ausbildung für Blutegeltherapie. Zudem hat sie mehrere Bücher veröffentlicht und hält Vorträge.