Das Goldene Zeitalter auf dem Altar des Fortschritts geopfert
Zu allen Zeiten haben sich Menschen Gedanken über ihre Zukunft gemacht. Ein Blick zurück bringt erstaunliche Erkenntnisse über die Zukunftserwartungen früherer Generationen.
Samuel Krähenbühl
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Diese drei Dimensionen hat die Zeit. Die Gegenwart ist der Moment, den wir aktuell erleben und prägen können. Die Vergangenheit ist dasjenige, was zurückliegt. Je weiter die Vergangenheit zurückliegt, desto mehr wird sie zur immer ferneren Erinnerung, bis sie fast ganz entschwindet. Trotzdem haben die Gegenwart und die Vergangenheit eines gemeinsam: Wir können im Grundsatz eine Aussage über sie machen. Das ist bei der Zukunft anders. Wir wissen nie ganz genau, was sie mit sich bringt. Und je ferner die Zukunft, desto ungenauer werden auch die Erwartungen. Dabei sollte uns die Zukunft eigentlich am meisten interessieren. Schon der grosse Physiker Albert Einstein (1879–1955) hat es hervorragend auf den Punkt gebracht: «Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.»
In antiken Kulturen herrschten oft zyklische Weltbilder vor. Nach dem Abstieg aus dem Goldenen Zeitalter bspw. fand ein Abstieg statt, bei dem am Ende des Zyklus der Wiederaufstieg in den paradiesischen Urzustand folgte.
Ja, uns alle interessiert die Zukunft. Doch es ist noch immer kaum möglich, auch schon nur die Ereignisse eines Tages genau vorauszusehen. Geschweige denn eines Monats, eines Jahres oder einer noch längeren Dekade. Trotz dieser unüberwindbaren Schwierigkeit gibt es immerhin eines, was wir tun können: Wir können die Zukunftserwartungen früherer Generationen auf den Prüfstand stellen.
Verlust des Paradieses
Ein grundsätzliches Element jeder Zukunftsbetrachtung ist immer die Frage, ob eine positive oder eine negative Entwicklung der Zukunft vorausgesetzt wird. Gerade in früheren Kulturen war die Zukunftserwartung häufig eher negativ. Nehmen wir die griechisch-römische Antike. Schriftsteller wie der Grieche Hesiod (um 700 v. Chr.) oder der Römer Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr) gehen von Zeitaltern aus, welche einen zunehmenden Zerfall der Gesellschaft abbilden.
1. Goldenes Zeitalter
2. Silbernes Zeitalter
3. Bronzenes (oder Ehernes) Zeitalter
4. Heroisches Zeitalter
5. Eisernes Zeitalter
Das Goldene Zeitalter ist ein Begriff aus der antiken Mythologie. Er bezeichnet die als Idealzustand betrachtete friedliche Urphase der Menschheit vor der Entstehung der Zivilisation. In Ovids Metamorphosen wird das Zeitalter wie folgt beschrieben: «Als erstes entstand das Goldene Zeitalter, das ohne strafenden Richter (wörtl. wobei es keinen … Richter gab), freiwillig, ohne Gesetz Treue und Recht pflegte.» Im übertragenen Sinn wird der Begriff Goldenes Zeitalter für eine Blütezeit verwendet. Auch der «Garten Eden», das biblische Paradies aus 1. Mose, Kapitel 2 und 3, ist ein Beispiel für einen solchen Idealzustand. All diesen Überlieferungen ist gemeinsam, dass grundsätzlich von einer schrittweisen, negativen Entwicklung der Gesellschaft ausgegangen wird. Treiber der Verschlechterung ist übrigens die Menschheit selber, welche mit ihrem an und für sich perfekten, absolut glücklichen Dasein nicht zufrieden ist, dieses deshalb in die eigene Hand nehmen will und deshalb moralisch immer weiter absteigt.
Nun, somit sind wir aber bereits wieder in einer Betrachtung der Vergangenheit, nicht der Zukunft? Ja und Nein. Nein deshalb, weil diese alten Traditionen aus dem Mittelmeerraum eben auch in die Zukunft weisen. Paradebeispiel dafür ist insbesondere die jüdische Tradition. Denn auch nach dem von diesen selbst verursachten Rauswurf der ersten Menschen aus dem Paradies wendet sich Gott nicht komplett ab, sondern verfolgt mit seinem auserwählten Volk Israel einen Heilsplan. Ohne auf die ganz konkreten, politisch sehr heiklen Fragen eingehen zu wollen, hier einfach der Verweis auf die enorme Wirkungsmacht dieser Zukunftsvisionen bis in die Gegenwart des Nahost-Konfliktes.
Bei aller Umstrittenheit zeigt genau dieses Beispiel ein nächstes, wichtiges Element von Zukunftsvorstellungen: Auch bei kurzfristig negativen Entwicklungen bleibt die Erwartung einer Verbesserung in ferner Zukunft. Ja, sogar auf das Wiedererlangen eines goldenen Zeitalters, eines neuen Paradieses.
Fortschrittsglauben in den technischen Fortschritt
Neben der pessimistischen Sicht eines kulturellen Abstiegs gab es aber durchaus auch Phasen, in denen die Menschheit die Zukunft in erster Linie positiv sah. Ganz besonders ausgeprägt war der Fortschrittsglaube im Zuge der Industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert. Der technische Fortschritt eröffnete der Menschheit bislang ungeahnte Möglichkeiten. Maschinen ermöglichten die Produktion von immer mehr und immer günstigeren Gütern. Die Dampfmaschine und später der Verbrennungsmotor wurden zu Treibern der Entwicklung. Und man sah diesen technischen Fortschritt mehrheitlich positiv. Sicher: Es gab auch die konservativ geprägte Sicht der Dampflokomotive als rasendes Ungeheuer. Noch 1864, als mit dem Bau einer Eisenbahnlinie von Bern nach Biel begonnen wurde, schoben sich die Gemeinden Schwanden und Schüpfen den Bahnhof gegenseitig zu, da man von dem «Funkenden Ungeheuer» (Dampflokomotive) Angst hatte. Schlussendlich wurde der Bahnhof der Kirchgemeinde, also Schüpfen, zugewiesen.
Doch je länger man sich an die neuen Maschinen gewöhnte, desto positiver sah man sie. Der Nutzen der neuen Dampfschiffe und Dampflokomotiven trat klar in den Vordergrund. Und man sah für die Zukunft noch immer mehr Potenzial im technischen Fortschritt. Der wohl berühmteste Denker dieser Epoche war der französische Schriftsteller Jules Verne (1828–1905). 1873 publizierte er sein wohl berühmtestes Buch überhaupt. Es trug den Titel «Reise um die Erde in 80 Tagen». Es handelte sich dabei im Gegensatz zu einigen seiner anderen Bücher nicht um Science Fiction. Verne kombinierte nur die theoretisch bereits vorhandenen Transportmöglichkeiten zu einer Punkt-zu-Punkt-Weltreise in 80 Tagen. Trotzdem schien seinen Zeitgenossen eine solche Reise noch ein Ding der Unmöglichkeit. So nebenbei: Die Zeit für ein Weltumrundung ist seit dem 19. Jahrhundert auf ungefähr zwei Tage geschrumpft. Mit allen zugänglichen Linien-Flugzeugen wohlgemerkt.
Weltreisen, Mondreisen und auch Unterwasserreisen: Das alles sah der französische Autor Jules Vernes 100 Jahre voraus. Sogar den Namen «Nautilus» übernahm das Atom-U-Boot vom Science-Fiction-Autor.
Mondlandung 100 Jahre vorher beschrieben
Die Weltumrundung war also wenigstens technisch schon damals zumindest theoretisch möglich. Als eine wirkliche Phantasterei musste Vernes Zeitgenossen hingegen das Buch «Von der Erde zum Mond» erscheinen. Die erste Version erschien 1865. Drei Astronauten sollten aus einer riesigen Kanone zum Mond abgeschossen werden. Kaum zu glauben, dass am 16. Juli 1969 mit Appollo 11 die erste bemannte Expedition zum Mond startete. Wie bei Jules Verne prognostiziert von Florida aus. Auch wenn die Beschreibungen Vernes nicht in jedem Detail übereinstimmten – so wurden die Astronauten von einer Rakete und keiner Kanone befördert – erscheinen die Übereinstimmungen trotzdem schier unglaublich.
Fortschritt führt zu sozialem Abstieg
Der weit verbreitete Fortschrittsglaube hatte aber immer wieder mit starken Gegnern zu kämpfen. Die vermutlich stärkste Kritik am Fortschritt der Industrialisierung kam aus dem Sozialismus. Wobei die Sicht des Sozialismus auf den technischen Fortschritt durchaus widersprüchlich war. Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) – die beiden wirkungsmächtigsten Vertreter des Sozialismus – sahen im Fortschritt zwar zum einen die Ursache für eine verbreitete Verelendung der Industriearbeiterschaft. Doch gleichzeitig war in ihrem Theoriegebäude diese Verelendung und somit indirekt auch die industrielle Revolution Voraussetzung zu einem Umsturz der politischen Macht weg vom Kapital hin zum Proletariat mit dem Fernziel einer klassenlosen Gesellschaft. Marx und Engels waren also gleichzeitig Kritiker und Befürworter des technischen Fortschritts. Im Gegensatz zu Jules Vernes teilweise sehr konkreten Prophezeiungen von Ereignissen erfüllten sich die marxistischen Theorien im Grunde auch nie. Die Oktoberrevolution 1917 in Russland fand eben gerade nicht in einem fortschrittlichen Land mit einer grossen Industriearbeiterschaft statt. Noch einmal zurück zu Jules Vernes. Im Buch «20 000 Meilen unter dem Meer» nahm er 1870 die Entwicklung von leistungsfähigen Unterseeboten vorneweg. Hier dauerte es gar nur 87 Jahre, bis sich Vernes Vision mit dem ersten atomgetriebenen U-Boot der US Marine erfüllte. Vernes Buch war sogar so wirkungsmächtig, dass die US Navy das Hightech-U-Boot wie im literarischen Vorbild «Nautilus» nannte. Am 4. Februar 1957 legte die USS Nautilus ihre 60 000. nautische Meile zurück, was mit der Reisedauer der fiktiven Nautilus in Jules Vernes Roman «20 000 Meilen unter dem Meer» übereinstimmte. Die USS Nautilus war nicht nur mit Kernenergie angetrieben. Sie war auch in der Lage, atomare Sprengköpfe abzuschiessen. Da sie sich unter Wasser praktisch unbemerkt der Sowjetunion – dem damaligen Hauptfeind Nummer 1 der USA – hätte annähern können, bedeutete dies eine weitere Eskalation im Kalten Krieg.
«Mehr als die Vergangenheit interessiert mich
die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.»
Wissenschaftlicher Fortschritt wird zur Bedrohung
Die so hoffnungsvollen Fortschrittsvisionen Jules Vernes hatten sich also im 20. Jahrhundert wieder ins Negative gedreht. Der technische Fortschritt brachte im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer furchtbarere Waffen hervor, welche 1945 quasi im negativen Sinne von den Atomwaffen «gekrönt» wurden. Der enorme Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts hatte sich spätestens nach dem 2. Weltkrieg und den Abwürfen der ersten Atombomben auf Japan ins Gegenteil gedreht. Die Zukunft schien nun wieder in erster Linie bedrohlich.
Die Wissenschaft, welche eine Zeitlang eine Art Heilsbringer zu sein schien, wurde nun sehr negativ – ja, sogar todbringend – gesehen. Literarisch auf den Punkt brachte diese kritische Sicht der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) im Drama «Die Physiker» von 1962. Wie üblich mit beissendem Humor sind in Dürrenmatts Theaterstück am Ende die Physiker nicht die einzigen, ja nicht einmal die schlimmsten, Wissenschaftler. Moralisch am verdorbendsten ist am Ende die Irrenärztin.