Die Wiederentdeckung der Leichtigkeit
Die Welt ist in einem Zustand der Daueraufregung – und das färbt auf uns alle ab. Wir verlieren schnell die Nerven, regen uns laufend über alles mögliche auf und ziehen wegen Nichtigkeiten mit dem Nachbarn vor Gericht. Aus viel zu vielem machen wir ständig ein Riesenproblem, dabei täte ein bisschen mehr Gelassenheit einfach nur gut.
Markus Kellenberger

Wir leben in einer atemberaubend schnelllebigen Zeit. Glaubt man den Medien, könnte die Welt jeden Augenblick aus irgendeinem Grund untergehen. Und glaubt man der Werbung, dann ist heute die allerbeste, wenn nicht gar die allerletzte Gelegenheit, um irgend- etwas zu kaufen oder irgendwohin zu reisen. Ob man das alles auch wirklich braucht oder nicht – darüber nachzudenken fehlt schlicht die Zeit, weil bald geht ja die Welt unter und die Nachbarn tun es auch. Ich vermute, dass das der Hauptgrund dafür ist, dass mittlerweile täglich (!) eine halbe Million Päckchen mit billigstem Dings und Bums aus China in der Schweiz ankommt, und die Menschen wie trunken jeden von Influencern neu gehypten Hotspot anfliegen, um auch dort gewesen zu sein. Diese globale Daueraufregung versetzt die Menschen in einen kollektiven Dauerstress. Das zeigt sich im Alltag auf vielfältige Weise, aber hauptsächlich darin, dass die Menschen immer dünnhäutiger werden. Es wächst die Angst, etwas zu verpassen, abgehängt zu werden oder nicht gut genug zu sein und die daraus resultierende «ich, ich, ich»-Kultur lässt den Umgangston in der Öffentlichkeit spürbar rauer werden. Die jährlich grösser werdende Menge an Beruhigungsmitteln und Drogen, die legal und illegal über den Tisch geht, hilft offensichtlich wenig dagegen.
Der Schlüssel zu mehr Gelassenheit
Im Gegenteil. Je gestresster Menschen sind, desto mehr neigen sie dazu, selbst aus dem klitzekleinsten Problem ein grosses zu machen, womit das Elend aus buddhistischer Sicht erst richtig beginnt, denn dort heisst es: «Hast du ein Problem und willst es nicht haben – dann hast du schon zwei.» Genau so beginne ein fataler Kreislauf des Leidens, «und aus dem müssen wir ausbrechen», sagte mir vor ein paar Jahren der buddhistische Mönch und Lama Lhagpa Tashi bei einem Mittagessen in der Tibetischen Universität in der indischen Stadt Varanasi. «Aber», sagte er auch, «das ist nicht einfach, denn die Menschen im Westen scheinen geradezu süchtig zu sein nach Leiden.»
Dann sagte er drei Sätze, die wir jedes Mal, wenn wir glauben, mit einem Problem konfrontiert zu sein, in Ruhe überprüfen sollten:
- Ist das wirklich ein Problem? Und falls ich es lösen kann – warum mache ich eines daraus?
- Ist das wirklich ein Problem? Und falls ich es nicht lösen kann – warum mache ich eines daraus?
- Ist das wirklich ein Problem? Und falls es nicht meines ist – warum mache ich eines daraus?
Ich erinnere mich gut an das silberhelle Lachen, das direkt aus seinem Herzen kam, als er sich mit Lust und Freude über das inzwischen servierte Dessert beugte und sagte: «In diesen drei Sätzen liegt der Schlüssel zur Gelassenheit.»
Was Lama Lhagpa Tashi an diesem Tag erzählte, ist eine der buddhistischen Strategien zu mehr Leichtigkeit im Sein. Es geht darin um die tägliche Überprüfung und Überwindung alter Muster und auch darum, nicht immer alles persönlich zu nehmen und die eigene Seele nicht mit Unnützem zu belasten. Viele dieser 2500 Jahre alten Weisheiten sind heute fester Bestandteil westlicher Psychotherapien und Entspannungstechniken wie der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR).

Die neue Leichtigkeit des Seins
Weil Achtsamkeit aber leider auch zum Allerweltsschlagwort geworden ist, hier zu deren Ehrenrettung eine Kurzdefinition: Achtsam sein heisst, in belastenden Situationen bewusst wahrzunehmen, was ist. Das bedeutet, sich ohne zu urteilen gewahr zu werden, wie man aus alter Gewohnheit heraus reagieren möchte, zum Beispiel aufbrausend, zugreifend, ablehnend oder verletzt – und ob das wirklich nötig ist. Das braucht selbstverständlich ein «wollen» und vor allem auch Übung. An MBSR-Kursen lernen Teilnehmende deshalb gleich zu Beginn, dass diese Form der Meditation nicht dazu da ist, um sich angenehme Gefühle zu verschaffen, sondern alte Muster als solche zu erkennen und im wohltuenden, heilenden Sinn zu verändern. Daraus resultieren dann angenehme Gefühle wie Entspannung, was es uns möglich macht, den Herausforderungen des Alltags gelassener zu begegnen und sich der rundum herrschenden Daueraufregung auch mal bewusst entziehen und durchatmen zu können.
Natürlich kann man im Alltag nicht ständig achtsam sein. Nicht einmal buddhistische Mönche können das, wie mir Lhagpa Tashi versicherte, doch das sei auch nicht das Wichtigste. «Viel wichtiger ist, es immer wieder zu versuchen.» Er selbst habe sich eigens dafür ein Zauberwort zugelegt, denn man müsse wissen: «Die alten Muster sind mächtig und sie schaffen es immer wieder, uns zu übertölpeln.» Wenn er merke, dass ein Ereignis, eine Aufgabe, ein Wort oder eine Nachricht in ihm negative Muster, Gefühle und vielleicht sogar Stress auslöse, dann sage er für sich selbst hörbar: «Interessant!» Das verschaffe ihm sofort eine «achtsame Distanz» zum Geschehen, von der aus er die aufkeimenden Gefühle wahrnehmen und wenn nötig in positive Bahnen lenken könne. «Und das», sagte er mit einem feinen Anflug von Humor, «ist doch interessant.»
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