Die Suche nach der heilen Welt

Markus Kellenberger

Ach», seufzte eine Freundin von mir, die gerade ein Bisschen am Leben und allem Drum und Dran zweifelte, «warum ist die Welt nicht einfach heil?» Eine Welt, meinte sie, in der nichts unser Leben durcheinander brächte, alte Wunden nicht mehr schmerzten, und wir immer ganz bei uns und mit allen und allem glücklich verbunden wären. «Ach», seufzte ich zurück, «das wäre schön.» Doch vermutlich ginge es mir über kurz oder lang wie dem Engel Aloisius. Der zog es vor, auf die Erde zurückzukehren, statt auf einer Wolke hockend für immer und ewig frohlocken und Hosianna singen zu müssen.

Ich verstehe den Aloisius gut, denn in einer völlig heilen Welt gäbe es keine Märchen mehr, die von Gut und Böse und dem Glück der Wagemutigen erzählen; es gäbe nichts mehr, wovon wir träumen könnten, denn wir wären wunschlos; niemand würde weinen, niemand dürfte trösten; kein Herzzittern würde die Liebe hin und wieder bittersüss machen; und kein Mensch müsste mehr lernen, seine Bürde zu tragen. Eine rundum heile Welt – ich fürchte, sie wäre auf Dauer einfach nur langweilig.

Und trotzdem: die Sehnsucht nach einer heilen Welt ist tief in uns verankert, seit Urzeiten. Schon die Schamaninnen und Schamanen unserer jagenden und sammelnden Vorfahren haben die Elemente beschworen und mit Geistern gerungen, damit zwischen den Menschen und allen sichtbaren und unsichtbaren Wesen grösstmögliche Harmonie herrscht. Und bis heute werden aus demselben Grund die unterschiedlichsten Göttinnen, Götter und Religionsgemeinschaften oder einfach nur das Schicksal um Hilfe gebeten – und immer wieder natürlich auch Heilsbringer jeglicher Couleur. Die haben aktuell übrigens gerade wieder einmal Hochkonjunktur.

Ja, es gibt gute Gründe, sich eine heile Welt zu wünschen. Jede, jeder und jedes hat eigene. Da ist nicht nur die verworrene Weltlage, da sind vor allem auch alte und neue Verletzungen der Seele, die immer wieder an einem nagen, Krankheiten und körperliche Gebrechen, die einem plagen, finanzielle Nöte, familiäre Probleme, falsche Glaubenssätze, Angst vor dem, was kommt oder eben nicht kommt. Wir alle schleppen in unserem Rucksack Dinge mit durchs Leben, die schwer wiegen und die wir noch so gerne loswerden und gegen eine heile Welt eintauschen möchten.

Mag sein, dass es pathetisch ist, aber immer, wenn der Rucksack schwer am Rücken hängt, fällt mir das Beresina-Lied ein. «Unser Leben gleicht der Reise eines Wandrers in der Nacht. Jeder hat auf seinem Gleise, etwas, das im Kummer macht.» Wenn das Gepäck des Lebens drückt, dann ist es Zeit für eine Wanderpause, in der man den Rucksack ablegt und seinen Inhalt vertrauensvoll mit einem lieben Menschen teilt, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Das macht die Welt zwar nicht heil, aber das Weitergehen leichter. Und ja, manchmal braucht es viel Kraft, um über sich und seinen Kummer hinaus zu wachsen. Doch wie heisst es so schön in den letzten vier Zeilen des Liedes: «Darum lasst uns weitergehen, weichet nicht verzagt zurück. Dort in jenen fernen Höhen wartet unser noch ein Glück.»

Allen Widrigkeiten des Lebens zum Trotz weitergehen, die Hoffnung nicht verlieren und jene oft nur flüchtigen Momente des Heilseins war- und annehmen – das ist manchmal fürchterlich anstrengend. «Ach», seufze ich deshalb beim Anblick meines eigenen Rucksacks, der längst wieder einmal ausgemistet gehört, «warum ist die Welt nicht einfach heil.»

Markus Kellenberger ist Autor und Journalist. In der Kolumne «Anderswelt» betrachtet er Alltägliches – nicht nur – aus schamanischer Sicht, und an seinen «Feuerabenden»
im Tipi begleitet er Menschen auf der Reise ins Innere. markuskellenberger.ch

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