Anderswelt: Zwei Lichtlein im Dunkeln
Etwa ab Mitte November bis ungefähr Mitte Januar zünde ich bei Einbruch der Dämmerung jeden Abend draussen zwei Kerzlein an. Man weiss schliesslich nie mit absoluter Sicherheit, wer oder was sich in diesen Nächten rund um das Julfest draussen herumtreibt, erst recht nicht, wenn man abgelegen wohnt und so dicker Nebel herrscht wie gestern.
Schon der kurze Tag war einfach nur grau in grau gewesen, ein einziges lichtloses Nichts, das einem überhaupt nicht nach draussen zog. «Nebel hängt wie Rauch ums Haus, drängt die Welt nach innen, ohne Not geht niemand aus, alles fällt in Sinnen», beschrieb Christian Morgenstern diese ganz spezielle Stimmung, die sich bis in die Seele ausbreiten kann. Als der diffuse Tag einem ebensolchen Dunkel zu weichen begann, bestückte ich die beiden Laternen vor der Tür mit neuen Kerzen und zündete sie an, damit die guten Geister wissen, dass sie in meiner Stube willkommen sind – und die bösen, dass sie sich an die Hausordnung zu halten haben. Niemand wird in solchen Nächten abgewiesen.
Die in Nebel gehüllte Nacht war feucht und kühl und wie schwarzer Samt – und sie lockte mich. Ich wusste nicht warum, aber warum nicht, dachte dachte ich, schliesslich kenne ich den Weg übers Feld hoch zur stattlichen Linde auf dem Hügel in- und auswendig. Ich zog mich warm an, löschte alle Lichter in der Wohnung und ging los. Nach wenigen Schritten schimmerten die beiden Kerzlein nur noch wie weit entfernte Sterne und bald waren sie überhaupt nicht mehr zu sehen. Nichts war mehr zu sehen. Der Nebel dämpfte und verschlucke alles, selbst den Weg, der mir doch so vertraut ist. «Seltsam, im Nebel zu wandern », fiel mir die erste Zeile von Hermann Hesses Gedicht «Im Nebel» ein. «Einsam ist jeder Busch und Stein, kein Baum sieht den andern, jeder ist allein.» Und genau so war es, und unheimlich noch dazu.
Der Weg, den ich bei Tag mit so sicherem Schritt ging – alles schien mir fremd in dieser Nebelnacht, selbst ich. «Ist alles, was wir sind oder scheinen, nichts als ein Traum im Traum», hatte Edgar Allan Poe einst gefragt. Ja, dachte ich, manchmal ist man im Leben tatsächlich unterwegs wie ein Traumwandler im Nebel, und dann kann es gut sein, dass man sich fühlt wie jemand, der träumt, dass er träumt. Ich war richtig froh, als die Linde endlich wie ein dunkles Schattenwesen vor mir auftauchte und meinen sich im Nebel verlierenden Gedanken wieder Halt gab. Die Welt war noch da, ich wusste wieder wo ich war – und dass ich wach bin.
Still machte ich mich auf den Rückweg durch den Nebel, und bald schon schimmerten vor mir wie weit entfernte Sterne zwei winzige Pünktlein, die mit jedem Schritt immer heller und grösser wurden. Vor der Türe blieb ich noch einen Moment in der Frische dieser magischen Nacht stehen, und die brennenden Kerzen machten mir den Mut, etwas zu tun, das ich mich im dicken, dunklen Nebel nicht getraut hatte. Ich begann leise zu summen. «Mmh, mh, mh ... der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weisse Nebel wunderbar.» Dann ging ich hinein, schloss vorsichtig die Tür hinter mir und machte schnell das Licht an. Man weiss in solchen Nächten wirklich nie genau, ob sich dort draussen im Dunkeln nicht doch noch etwas herumtreibt.
Markus Kellenberger ist Autor und Journalist. In der Kolumne «Anderswelt» betrachtet er Alltägliches – nicht nur – aus schamanischer Sicht, und an seinen «Feuerabenden» im Tipi begleitet er Menschen auf der Reise ins Innere. markuskellenberger.ch